„Ungute Gefühle“ in Moskau

■ Gorbatschows Kehrtwende wird in der sowjetischen Öffentlichkeit mit Zurückhaltung aufgenommen

Das Zugeständnis Gorbatschows an Kohl und den Westen, einer Nato-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands nichts mehr in den Weg zu legen, wird in der KPdSU und auch in der sowjetischen Öffentlichkeit ein Nachspiel haben. Mit welcher Vorsicht man dieses heiße Eisen dem Land präsentiert, ließ sich gestern morgen den großen Tageszeitungen entnehmen: Zwar titeln die Sowjet-Blätter immer zurückhaltender als ihre westlichen Pendants. Aber das Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow als „Arbeitstreffen“ und „unter Berücksichtigung aller Standpunkte“ abzuhandeln, offenbart die Brisanz dieses Themas.

Schon auf den zurückliegenden Parteitagen der russischen Kommunisten und der KPdSU wurden Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse wegen ihrer vermeintlichen „Verzichtspolitik“ in Mitteleuropa hart kritisiert. Primat dieses Feldzuges war der Auftritt General Makaschows, Kommandeur eines Wehrkreises an der oberen Wolga. Stalin hätte den Zweiten Weltkrieg gewonnen, den Gorbatschow jetzt gerade verlöre, wütete der General.

Bisher hat Gorbatschow als Gegenleistung für den Abbau der sowjetischen Hegemonie in Mitteleuropa zu Hause nichts anzubieten. Militärs und Vertreter des militärisch -industriellen Komplexes sehen ihre Interessen betroffen.

Aber mit einem wiedervereinigten Deutschland in der Nato wird auch ein Großteil der sowjetischen Öffentlichkeit nicht einverstanden sein. Vor zwei Monaten sprachen sich in der UdSSR noch 60 Prozent der Bevölkerung für die deutsche Einheit aus. Die Bedingungen, an die sie das geknüpft sehen wollten, waren klar: Neutralität, und im Falle eines Abzuges der sowjetischen Truppen aus der DDR sollten auch die Alliierten ihre Stellungen räumen.

Zitterten die westlichen Politiker vor einigen Wochen noch um das Schicksal des Sowjet-Chefs, setzten sie ihm gleichzeitig mit der Forderung nach einer Nato -Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands die Pistole auf die Brust. In der Londoner Erklärung der Nato hat man ihm ein Feigenblatt gereicht. Noch in der letzten Woche sah es so aus, als würde man einer Nato-Mitgliedschaft nur dann zustimmen, wenn die Drittländer ihre Nuklear-Waffen von deutschem Boden abzögen. Der deutschlandpolitische Berater Gorbatschows, Portugalow, meinte noch dazu: „Die atomare Präsenz der Drittländer auf deutschem Boden ist für uns eine Schlüsselfrage, das können wir nicht so schlucken.“

Werden sie es nun doch runterwürgen? Auf dem Parteitag hatte Außenminister Schewardnadse angekündigt, das Endergebnis der 2+4-Verhandlungen und auch die rechtlichen Vereinbarungen des militärischen Status‘ Gesamtdeutschlands würden dem sowjetischen Parlament, dem Obersten Sowjet, auf jeden Fall zur Ratifizierung vorgelegt. Man brauche kein Prophet zu sein, mutmaßte Portugalow, um vorauszusehen, daß das sowjetische Parlament die Ergebnisse so nicht absegnen werde.

„Irgendwo in der Magengrube haben wir alle die großen und kleinen unguten Gefühle. Wird es dem geeinten Deutschland, diesem Koloß, gelingen, mit der harten Mark zu vollbringen, was Hitler mit Feuer und Schwert nicht erreichen konnte?“, resümiert Portugalow, um dann doch noch zu einem versöhnlichen Schluß zu finden: „Die deutsche Nation hat ihre erste Startprüfung auf Verläßlichkeit im demokratischen Sinne nun abgelegt. Einen bestimmten Vorschuß an Vertrauen darf sie schon genießen“.

Klaus-Helge Donath, Moskau