Augen geradeaus - zum Fixpunkt?

■ Mit Exerzierschritt in die ungewisse Zukunft: Wachregiment „Friedrich Engels“ wurde neu vereidigt

Mitte. Kurz vor der Vereidigung gibt es in der Offiziersstube immer noch Verwirrung: „Welche Jacke?“ ruft einer. „Ausgehjacke mit Koppel“, schallt es hinter einer Tür hervor. Beim Wachregiment „Friedrich Engels“, das in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße stationiert ist, ist nichts mehr beim Alten. Die Paradeuniform bleibt heute im Spind, ebenso wie der Offiziersdolch, Orden und Auszeichnungen. Anders als bei den übrigen NVA-Einheiten fand die Neuvereidigung bereits gestern statt: Heute, am symbolträchtigen 20. Juli, muß das Wachregiment zur Einweihung eines „Stauffenberg„-Hauses in Straussberg antreten.

Auf dem Kasernenhof geht es eher improvisiert als gedrillt -parademäßig vor. So stellt sich der Spielmannszug zuerst auf der falschen Seite auf. Doch schließlich stehen rund 150 Mann in Reih‘ und Glied, die kurze Zeremonie kann beginnen. Die Kapelle spielt den Präsentiermarsch, und nach einer Meldung gibt es die DDR-Nationalhymne. Mit „Augen geradeaus!“ nehmen die Soldaten, Offiziere und Militärmusiker das Grußwort von Abrüstungs- und Verteidigungsminister Eppelmann entgegen, das von einem Oberstleutnant verlesen wird. Dann treten vier „Fahnendelegierte“ aus der Reihe hervor und legen Hand an eine ausgerollte DDR-Flagge. Die beiden Fahnenträger sind die einzigen, die noch den alten Paradedreß mit Reithosen, Stahlhelm und knarrenden Lederstiefeln tragen. Die Soldaten müssen jetzt laut nachsprechen, daß sie in Zukunft ihre militärischen Pflichten stets „diszipliniert und ehrenvoll“ erfüllen wollen. Auch werden sie ihre „ganze Kraft“ für den Frieden einsetzen - und für den „Schutz der DDR“. Das alles ist schnell passiert: Die Delegierten treten wieder zurück, und nach zehn Minuten ist die ganze Zeremonie schon vorbei. „Hastig und ein bißchen herzlos gemacht“, findet ein Stabfähnerich beim Abrücken.

Zufrieden ist hingegen Major Gerald Kirsch (32). „Ein großer Tag für uns“, kommentiert er das Ereignis. Es sei zwar auf das notwendige Maß reduziert gewesen, aber vorher sei alles „übermilitaristisch“ gewesen, meint er auf dem Rückweg in sein Büro. Kirsch, der nach dem Regimentskommandeur der zweite Mann in der Kaserne ist, freut sich, daß jetzt für die rund 300 Mann starke Wacheinheit eine „gesetzlose Zeit“ wenigstens formell zu Ende ist. „Man hatte gar keine Rechtfertigung für sein Handeln mehr.“ Das Wachregiment „Friedrich Engels“ wird für offizielle Anlässe wie die Akkreditierung von ausländischen Botschaftern und für das Bewachen von militärischen „Objekten“ in Ost-Berlin eingesetzt - so zum Beispiel in der Stadtkommandantur im Stadtteil Schönweide. Für jeden sichtbar, treten seit 1962 die Soldaten mit dem Mindestmaß von 1,76 an der Schinkel-Wache Unter den Linden auf, wo sich das „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ befindet.

Wenn eine der Wachen das funktionsuntüchtig gemachte Gewehr auf die andere Schulter wechseln will, drückt er mit der Fußspitze auf einen Klingelknopf. Der Kollege (es gibt feste Teams, nach „Temperament“ abgestimmt) bestätigt seinerseits das Klingelzeichen, dann wird nach einem nochmaligen Klingeln der Seitenwechsel vollzogen. Die Blicke bleiben natürlich starr geradeaus gerichtet. „Auf der anderen Straßenecke gibt es festgelegte Fixpunkte“, erklärt Kirsch. Nur einmal in der Geschichte des Regiments hat sich ein Posten unerlaubt entfernt: als im vergangenen Monat „Republikaner“ einen Kranz am Mahnmal niederlegen wollten (taz berichtete). Der zuständige Offizier zog die Wache ab.

Außer mit Neun-Millimeter-Makarov-Dienstpistolen und inzwischen eingemotteten Maschinenpistolen ist das Regiment nicht bewaffnet. Im vergangenen Herbst sei man polizeimäßig ausstaffiert gewesen, also mit Schlagstöcken, Schilden und Helmen. Ein paarmal sei man auch ausgerückt, erzählt Kirsch weiter. Bereits ab dem 10. Oktober soll es nach Kirschs Angaben einen Befehl des Regimentskommandeurs gegeben haben, auf keinen Fall tätlich gegen Demonstranten vorzugehen. Wie alles genau war, wird aber wohl erst eine penible Geschichtsschreibung herausfinden. Ob das Regiment und der „Große Wachaufzug“ - der als Preußenshow jeden Mittwoch zahlreiche Touristen anlockt - bleiben werden, ist derzeit unklar. Konzessionen sind schon gemacht: So brauchen die Hacken beim Exerzierschritt nur noch 30 Zentimeter über den Boden angehoben werden.

Christian Böhmer