Ehre, wem Ehre gebührt

 ■ Soldat und Deserteur - die Kriegserinnerungen von Dominik

Richert

Von Helmut Donart

Deserteure sind hierzulande meist unbekannt. Dennoch erhitzen sie die Gemüter. Vor allem, wenn man ihnen ein Denkmal setzt. Noch immer gilt: Wer sich als deutscher Soldat der Schlachtbank geopfert hat, wird geehrt, auch wenn er, wie Tucholsky schrieb, eher zu bedauern wäre, „weil er für einen Dreck gefallen ist“. Der Deserteur, der leben will, stört solche „Ehrung“. Einer, der schon im Ersten Weltkrieg nicht mehr für einen Dreck fallen wollte, ist Dominik Richert. Sein erst kürzlich bekannt gewordenes Kriegstagebuch verdeutlicht, wie fragwürdig die in weiten Kreisen verbreitete Auffassung ist, Deserteure seien Feiglinge oder Drückeberger.

Richert (1893-1977), Bauer aus dem elsässischen Dorf St.Ulrich und im Herbst 1913 zum Militär eingezogen, braucht im August 1914 von seinem Vater nicht lange ermahnt zu werden, sich im Feld nie zu etwas freiwillig zu melden. Seine Herkunft aus dem Grenzland Elsaß, in dem sich, von den Deutschen 1871 gegen den Willen der Bevölkerung annektiert, der preußische Militarismus mit seinem „Immer feste druff!“ besonders verhaßt gemacht hat, bewahrt Richert vor der Kriegsbegeisterung seiner Kameraden aus dem 112.badischen Infanterieregiment, das in Mühlhausen stationiert ist. Der Gedanke, den sogenannten Heldentot aus „Vaterlandsliebe“ zu sterben, erfüllt ihn mit Grauen. Die Aussicht, „daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen werden kann“, ist ihm „äußerst unangenehm“ und prägt seine Haltung als Soldat. Ob im Elsaß oder in Flandern, in den Karpaten oder als Mitglied einer MG-Kompanie an der nordrussischen Front und zuletzt, nach dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk im März 1918, erneut an der Westfront - Richert will nicht töten, weil er selbst nicht getötet werden will. Von zwei kurzen Urlauben und einem längeren Lazarettaufenthalt abgesehen, ist er nahezu vier Jahre lang damit beschäftigt zu überleben.

So oft es geht, sucht er dem elenden Hundedasein in den Gräben, wo man bis zu den Knien im Dreck und Wasser versinkt, zu entrinnen. Er meldet sich krank, um ins Lazarett zu kommen, entfernt sich von seiner Einheit zwecks „Erholungsurlaub hinter der Front“ und hat es nie eilig, seine Kompanie wiederzufinden. Befehlen, Himmelfahrtskommandos und Angriffen, die den sicheren Tod bedeuten, geht er aus dem Weg. Er betrinkt sich dermaßen, daß er nicht mehr in die erste Linie zurückkehren kann, beschädigt die Mechanik seines MGs, um anstürmende Engländer zu schonen und so vielleicht in Gefangenschaft zu geraten. Vor einer Selbstverstümmelung schreckt er im letzten Moment zurück.

Richert boykottiert, was unmenschlich ist, erweist sich als redlicher, „guter Mensch“. In einer mörderischen Welt behält er seine Würde, entzieht sich dem Kasernenhofton und der Verrohung der Geschlechterbeziehungen. Nur wo er es für angebracht hält, riskiert er sein Leben. Er hilft Schwerverwundeten, schleppt sie aus der Schußlinie, gibt ihnen zu trinken, verbindet sie, widersetzt sich dem Befehl, keine Gefangenen zu machen, rettet wehrlosen Franzosen das Leben.

In einer einfachen, klaren, zugleich aber bildhaften Sprache, deren Aussagekraft es mit jedem Antikriegsroman aufnehmen kann, beschreibt er die Strapazen und Leiden der Soldaten im Ersten Weltkrieg, ihre Sorge um das eigene Leben, die, je länger einer dabei ist, den „Glauben an das Vaterland oder sonstigen patriotischen Schwindel“ als hohle Phrasen entlarvt. Mut, Heldentum, Tapferkeit und dergleichen weichen spätestens nach dem ersten Gefecht der Angst, „denn in Wirklichkeit ist's doch nur die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Soldaten vorwärts und in den Tod treibt.“

Wut ergreift Richert angesichts des bequemen Lebens der Kriegsurheber und Offiziere, die „zu ihrem großen Gehalt, besserer Verpflegung auch noch Tafelobst haben“, während die Soldaten Kohldampf schieben. „Wirklich, die Schuldigen an solchem Elend hätten es verdient, mit allen erdenklichen Mitteln langsam zu Tode gemartert zu werden.“ Je schlechter die Versorgungslage wird, umso mehr wundert Richert sich „über die blödsinnigen Patrioten, die immer noch an einen deutschen Sieg glauben“. Meldungen von Zeitungen, daß „unsere Soldaten für ihr Vaterland mit einem Lächeln auf den Lippen sterben“, sind ihm nichts weiter als eine „dreiste Lüge“. Und: „Alle jene, die solche Sachen erdichten und schreiben, gehörten nur in die vordere Front gesteckt. Dort könnten sie bald an sich selber sowie an den anderen sehen, welche infame Lüge sie in die Öffentlichkeit geschleudert haben.“

Eindringlich schildert Richert die Inhumanität und Sinnlosigkeit des Kriegs und Massensterbens, das Jammern der Verstümmelten und Stöhnen der Verwundeten, das Elend der Kriegsgefangenen, die Schikanen der Vorgesetzten, die Behandlung der Elsässer als Soldaten zweiter Klasse und die Leiden der Zivilbevölkerung, der sein „Mit-Mitgefühl“ ebenso gilt wie dem „Feind“, der wie die eigenen Landsleute als armer Bauer, gemeiner Soldat und Familienvater ständig in der Gefahr schwebt, von einer Kugel niedergestreckt zu werden. Richert zeigt den Krieg, wie er ist: unheldisch, gemein und verbrecherisch. Verbrecherisch, weil nicht mehr menschliche Tapferkeit und Begeisterungsfähigkeit einen Sieg erringen, sondern die größte Bestialität, das bessere Kriegsmaterial und die vehementeste Rücksichtslosigkeit im Gebrauch von Giftgasen, Geschützen und anderen Mordwerkzeugen.

Je länger der Soldat im Graben liegt, um so mehr wird er entmenschlicht, zu einer verdreckten, zerlumpten, verlausten Gestalt, ein willenloses Werkzeug des Militarismus, das keine Seele mehr hat und entnervt, hungernd und frierend an der Front ausharrt, um verheizt zu werden. Wohin man auch blickt, überall Greuel der Verwüstung. „Wann“, schreibt Richert, „wann endlich wird dieses Morden ein Ende nehmen?“

Am 23.Juli 1918 kündigt er die blutige Gefolgschaft endgültig auf, geht das Wagnis einer standrechtlichen Erschießung ein und desertiert mit zwei weiteren Kameraden an der Westfront. Aus der Gefangenschaft zurück, zieht Richert seinen Pflug wieder über den Acker. Doch der Krieg läßt ihn nicht los, die Bilder wollen nicht weichen. In den Abend- und Nachtstunden zeichnet er alles auf, als sei es gerade erst gestern geschehen. Daß er in einer Zwischenkriegszeit lebte, lag wohl daran, daß allzuviele in Deutschland vom „Feld der Ehre“ noch immer nicht genug hatten. Um so bedauerlicher, daß Richerts Aufzeichnungen, von den Herausgebern mit einem lesenswerten Nachwort versehen, erst im letzten Jahr erschienen sind.

Dominik Richert: Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914-1918. Hrsg. von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich, München (Knesebeck & Schuler) 1989, 414 S., 42 DM