Posttotalitärer Katzenjammer

 ■ Ein Blick durch deutsche Zeitschriften

Von Reinhard Mohr

Ein Gespenst geht um in Deutschland. Günter Grass warnt vor „Hinrichtungsvorbereitungen“, Walter Jens erhebt sein Wort gegen „die Treibjagd“ und das „große Halali“, das bundesdeutsche PEN-Zentrum beklagt den „postmodernen McCarthyismus“, und DDR-Autoren sehen sich längst als Opfer eines kulturellen „Neokolonialismus“.

Die harschen Worte, die zur Kennzeichnung früherer politischer Verhältnisse in der DDR durchaus geeignet gewesen wären, gelten einer Debatte in - vornehmlich westdeutschen - Feuilletons.

Aus einer Handvoll kritischer Artikel über Christa Wolf und ihr gerade erschienenes Buch Was bleibt ist inzwischen eine Auseinandersetzung über die Rolle der Intellektuellen überhaupt geworden. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat die Fragen von Anpassung und Widerstand, Schuld und Verantwortung gerade jener Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, die am „sozialistischen Projekt“ bis zuletzt festhielten, auf neue Weise aktuell werden lassen. Ähnlich wie bei der taz-Debatte über die Veröffentlichung von Stasi-Listen spitzt sich die Auseinandersetzung auf einen Punkt zu: Wem „gehört“ die Geschichte und : Wie ist mit ihr umzugehen ?

Sozialismus als biographisches Eigentum

Der Streit hat bisher gezeigt, daß nicht nur Intellektuelle aus der DDR dazu neigen, die Geschichte des (DDR-) Sozialismus zum biographischen Eigentum der unmittelbar „Betroffenen“ zu erklären, das vor dem „Zugriff“ unbefugter Kritiker zu schützen sei. Auch westdeutsche Intellektuelle plädieren - ganz gegen sonstige Gepflogenheiten - für Schonräume der Kritik. Walter Jens, der gute Mensch aus Tübingen, warnt streitlustige Intellektuelle eindringlich vor einem „kruden Antiintellektualismus“ und empfiehlt dagegen „ein wenig mehr Sensibilität“, „Behutsamkeit“ und „Bedachtsamkeit“. Aus der Buchsbaumperspektive des kulturvollen Festvortrags ruft er die Klassiker zu Hilfe: „Viel Platon, viel Lessing: Nathan der Weise, ein Grunddiskurs über Fragen bedächtigen Kommunizierens“, und verschreibt gegen die Schmerzen der Aufklärung den Balsam humanistischer Selbstbesinnung, einen protestantischen Jargon der Eigentlichkeit.

Lothar Baiers Bericht von der Erde (Kursbuch 100) zeugt von einem gegenteiligen Rezept.

Viel Wut über den „verlorenen Groschen“, über den Verlust des angestammten Kritikerplatzes, hat die Feder des renommierten Essayisten geführt. Die Implosion des osteuropäischen Sozialismus hat den traditionellen „Standortvorteil“ des westlichen Kritikers gegenüber dem real existierenden Kapitalismus empfindlich verringert, der impliziten Vorstellung einer grundsätzlichen Systemalternative einen weiteren schweren Schlag versetzt und die Figur des kosmopolitischen Intellektuellen beschädigt, der Utopist, Kritiker und Zyniker in einer Person sein konnte.

Brisant an der gegenwärtigen Situation ist, daß die dramatischen politischen Ereignisse diese existentielle Kombination gesprengt haben. Nicht die Realität des kapitalistischen Weltmarkts hat sich grundsätzlich verändert, sondern die politisch-intellektuelle Konstellation, das zeit-räumliche Kontinuum der (Emanzipations-)Geschichte. Die „Rückkehr des Ostens“ hat die Intimsphäre des linken Diskurses verletzt, Illusionen, Fehleinschätzungen und Verdrängungsleistungen offenbart. Der Verweis etwa auf das Massenelend in Lateinamerika steigert nicht mehr automatisch Triftigkeit und Glaubwürdigkeit linker Gesellschaftskritik, an die nun, nach der Auflösung der globalen Bipolarität, neue Anforderungen gestellt werden. Dafür muß sie sich jedoch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontieren.

Lothar Baier hat es diesmal noch vorgezogen, ins Weltall zu fliehen. Sein fiktiver Brief an einen Astronauten, datiert vom 9.November 2019, erzählt von der Erde dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer. Auf der ganzen Welt hat sich die Lehre des „Brandtismus“ durchgesetzt - „Was zusammengehört, muß zusammenwachsen“ -, der 9.November ist überall - außer in Israel - gesetzlicher Feiertag. Die auf eine Verschwörung Willy Brandts zurückgehende Maueröffnung durch den Westagenten Egon Krenz hat die brandtistisch reformierte Welt in einen nationalistisch-rassistischen Taumel gerissen, der unzählige neue Staaten hervorgebracht hat. Boris Jelzin ist zum russischen Duce avanciert, Polens Westgebiete sind wieder deutsch, eine „Öko-Kuppel“ schottet die prosperierenden europäischen Regionen vor Umweltgefahren aller Art ab, und ein amerikanisch-japanisch-deutsches Konsortium regiert die Weltwirtschaft.

Die kosmische Wut

des Kritikers

Lothar Baiers mit großem Aufwand inszenierte Polit-fiction drückt das aus, was sie zu kritisieren vorgibt: eine mythologisch getrübte Weltsicht. Daß ausgerechnet der Erfolg der osteuropäischen Demokratiebewegungen den Stoff für ein sarkastisches Horrorgemälde abgibt und Willy Brandt zum Wegbereiter einer kleingeistig-chauvinistischen Welt ernannt wird, zeigt, wie tief der Schmerz sitzt, der kritisch -utopisches Denken offenbar nur als kosmische Philippika überleben läßt. Der vermeintliche Angriff ist eine einzige Abwehrschlacht. Die Ironie ist seltsam ziellos, zersetzt kein „falsches Bewußtsein“ mehr, sondern dient dem Autor als Schutzschild gegen die eigene Irritation.

Wie anders dagegen der ungarische Schriftsteller György Dalos, dessen Ironie ihren Gegenstand tatsächlich trifft. Sein Rückblick aus dem Jahr 2020 ist bitterböse, läßt aber immerhin noch Fragen offen: „Damals, im vorigen Jahrhundert, beneidete die westliche Linke uns Osteuropäer wegen unserer niedrigen Wohnungsmieten, während wir sie wegen ihrer Wohnungen beneideten. Wir hofften, auch einmal ihre Reisefreiheiten erreichen zu können, sie fühlten sich in unserem Eingesperrtsein heimelig. Absurderweise betrachteten wir unsere Länder gegenseitig als Zukunft. Trotz solcher kulturellen Mißverständnisse waren wir uns in einem einig: Niemand wollte in der Gegenwart leben. Nun haben wir die Zukunft.“

Verspätete Intellektuelle auf dem LKW

Richard Swartz erinnert noch einmal an die jüngste Vergangenheit, die schon so weit zurückzuliegen scheint, an jene Demonstration der 500.000 vom 4.November 1989 in Ost -Berlin: „War es die Vielfalt der verbrauchten Worte, die mir das Gefühl gab, Zeuge eines bereits abgesetzten Stücks zu sein? Oder war es die historisierende Kulisse? Wie Spartakisten aus einer vergangenen Zeit standen die Intellektuellen dort auf ihrer Ladefläche; es fiel mir auf, daß sowohl der Wagen als auch der Traum vom demokratischen Sozialismus, zu dem sich ein Redner nach dem anderen bekannte, eigentlich in ein Revolutionsmuseum gehörten.“

Die „verspäteten Intellektuellen“ auf dem Lastwagen am Alexanderplatz - das ist ein Bild der historischen Zäsur. Swartz erkennt darin „nostalgische Projektionen“ der westlichen Linken und ein komplementäres Paradox bei DDR -Intellektuellen, „daß die Utopie, an die sie sich klammerten, in ihren Werken nicht mehr vorkam. Die beste ostdeutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre mutet eher wie ein Friedhof der Utopien an. Was dagegen geschaffen wird, ist eine Klaustrophobie der Seele oder des Raumes.“

In diesem - übrigens sehr deutschen - „Trotzalledem“ steckt ein Teil des Geheimnisses. Der Trennungsschmerz, den Erkenntnis verursachen kann, wird stets aufs neue aufgeschoben, Ambiguität wandelt sich in Bigotterie, Widersprüche und Zweifel werden zu einem verinnerlichten, indifferenten Dauerleiden, das Prinzip Hoffnung zu einer „wehmütigen Unbeirrbarkeit vermeintlich ewiger Verlierer“ (Volker Zastrow in der 'FAZ‘).

Es ist daher kein Zufall, daß die sturzbachartigen Umwälzungen seit Herbst letzten Jahres vor allem bei jenen Angst hervorriefen, die sich ihre verzweifelt utopische Nische als Bunker hergerichtet hatten. Gerade die „anti -utopischen“ Revolutionen in den realsozialistischen Ländern, die die scheinbar postmodern ruhiggestellte Geschichte wieder zum Laufen gebracht haben, werfen ein Schlaglicht auf linke Geschichtsfixierungen. Im Augenblick großer, hoffnungs- wie gefahrvoller Veränderungen erweist sich die traditionell linke Utopie als statisches, kanonisch verinnerlichtes Gebilde, das mit den realen Bewegungen der Geschichte nicht mehr viel zu tun hat.

Unzählige scholastische Debatten würden sich erübrigen, wenn die Erfahrungen dieses Jahrhunderts auch nur annähernd erfaßt und reflektiert würden. Die 'Neue Rundschau‘ dokumentiert einen weitgehend unbekannten Brief von Thomas Mann an Walter Ulbricht vom Sommer 1951, in dem der Schriftsteller gegen Standgerichtsverfahren und Todesurteile im Gefängnis Waldheim/DDR protestiert. Es ist ein bewegender Appell, eine Bitte um Gnade und Menschlichkeit. Aber es ist auch ein Erschrecken über die totalitären Parallelen zwischen Faschismus und Staatskommunismus, zwischen Freislers Volksgerichtshof und den Sondergerichten des SED -Staates.

Schreiben und sterben unter Stalin

Das Thema des Sommerhefts der 'Neuen Rundschau‘ - „Schreiben und Sterben unter Stalin“ - ist Isaak Babel gewidmet. 1894 in Odessa geboren, schrieb er neben Prosastücken Drehbücher zu den Filmen Benja Krik, Jüdisches Glück und Sternschnuppen. Er war Revolutionär der ersten Stunde, Soldat, Dichter, zeitweise sogar Mitarbeiter im „Volkskommissariat für Aufklärung“, der berüchtigten „Tscheka“. Der große Maxim Gorki bewunderte ihn. Am 15.Mai 1939 verhafteten ihn die Schergen Stalins. Am 27.1.1940 wurde das in einem zwanzigminütigen Prozeß gefällte Todesurteil vollstreckt.

Menschen wie Isaak Babel lebten im geschichtlichen Kern der großen Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts, der sich zahllose Intellektuelle anschlossen oder zumindest nahestanden. Die Werke von Arthur Koestler, Manes Sperber, Georg Glaser und anderen, die allesamt in den vierziger Jahren niedergeschrieben wurden, sind Zeugnisse des Dramas der sozialistischen Revolution im zwanzigsten Jahrhundert, der Affinität vieler Intellektueller zu den revolutionären Umbrüchen der Zeit und „der Partei“, die die Zukunft zu erobern versprach. Alle Ideen - von Expressionismus und Dadaismus bis zu Psychoanalyse und Philosophie - sollten in jene eine große Idee der Befreiung münden. Die Erfahrung der Überlebenden dieses großen Aufbruchs - sich am Ende „Wie eine Träne im Ozean“ (Sperbers Romantrilogie) in der Einsamkeit einer unendlichen Ent-Täuschung und Desillusionierung wiederzufinden - wurde von vielen Linken in West und Ostnach 1945 gar nicht erst zur Kenntnis genommen oder verlor sich ihrerseits im Strudel der Geschichte, die in der DDR mit dem „antifaschistischen Gründungsakt“ ganz neu zu beginnen schien.

Wie eine Träne

im Ozean

Das neueste Argument von Günter Grass zur Verteidigung der politischen Generation von Christa Wolf ('Der Spiegel‘ 29/90), zwischen dem Ende der Nazi-Herrschaft und dem Beginn des Sozialismus habe es - auch in Anbetracht der idealistischen Grundhaltung dieser Generation - kein ideologisches Vakuum gegeben und also auch, so darf man schließen, keinen Raum zu tiefgreifender Skepsis, zielt haarscharf daneben und trifft doch den Punkt. Wenn man einen epochalen Vorwurf jenseits aller individuellen Schuldhaftigkeit gegen diese Generation erheben kann, dann den: daß sie ihre politische wie intellektuelle Herkunft, die Geschichte der kommunistischen Bewegung von 1917 bis 1945, nicht wirklich wahrgenommen hat.

Jürgen Manthey wirft im 'Merkur‘ einen Blick zurück auf Bertolt Brecht. „Wir lesen Leben des Galilei heute als Rechtfertigung des zehn Jahre später vom Autor vollzogenen Schrittes bis hin zur vollständigen Anpassung an die machtvollste Autorität des Zeitalters: Stalin.“ In Brechts Theaterstück Die Maßnahme finde sich die Regieanweisung zur Lösung seiner inneren Probleme: „Nach dem Krieg handelt er nach diesem Entwurf, begibt er sich in Reichweite des Moskauer Vatikans, an den feudalen Hof Ulbrichts und unterwirft sich dem „Heiligen Offizium“ des ZK und der Zensur. Heimlich fertigt er Abschriften an, wie die von dem berühmten Gedicht nach dem 17.Juni 1953, das sich dann im Nachlaß findet. Öffentlich tritt er zum gleichen Zeitpunkt mit einer Huldigung an Ulbricht hervor.“

Im Juni-Heft des 'Merkur‘ versuchte der Adorno- und Habermas-Schüler Helmut Dubiel, ein Stück aktuelle „linke Trauerarbeit“ zu leisten. „Nur wer die dem Anti -Antikommunismus entsprungene Kritikbefangenheit der westdeutschen Linksintelligenz gegenüber dem totalitären Sozialismus und den skizzierten analytischen Finalismus in der Kapitalismustheorie zusammenliest, kann die kurzlebige Euphorie über die demokratischen Revolutionen im Osten und die ihr folgende Depression angemessen verstehen. Denn jene Kritikbefangenheit und der analytische Finalismus schossen plötzlich zusammen zum Traumbild eines dritten Weges. Daß im heißen Frühwinter des Jahres 1989 gerade die kollabierende Gesellschaftsordnung der DDR zum Auslöser des Traums wurde, daß der Asche des Totalitären der Sozialismus mit menschlichem Antlitz entsteigen könnte, hätte uns darüber belehren können, was wir an ihm, dem realen Sozialismus, verloren haben, um Freuds Formulierung aufzugreifen.“

Roher Kommunismus

in der DDR

Hohe Wellen schlägt der Verlust in der Zeitschrift 'Widerspruch‘, in der ein ungehemmter Proseminarmarxismus mit traumwandlerischer Sicherheit zu der Erkenntnis gelangt, daß die Menschheit an einem neuen Sozialismus einfach nicht vorbeikommen wird, zumal der alte gar keiner war, sondern allenfalls „roher Kommunismus“ (Peter Ruben). Der wirkliche Sozialismus ist „a priori demokratisch“, so daß die Rede von einem „administrativ-bürokratischen Sozialismus“ schlichtweg „Falschmünzerei“ ist, wogegen sich linkes Denken zu richten habe.

Auch in der stets lesenswerten Monatszeitschrift 'Kommune‘ versuchen sich zwei Autoren an einer „rituellen Teufelsaustreibung“. Der Kapitalismus wird im Zweifel noch rückwirkend für die Katastrophe des „realen Sozialismus“ verantwortlich gemacht. Mit eifersüchtiger Akribie addieren Werner Polster und Klaus Voy die Probleme des „realen Kapitalismus“ zu einer irrwitzigen Liste von Untaten auf, bis die gute Idee dem globalen Bösen wieder in wünschenswerter Klarheit gegenübersteht. Die alte These vom Zusammenbruch des Kapitalismus wird einfach auf die DDR übertragen, die erst durch die kapitalistische Bundesrepublik in den Abgrund von Zinsknechtschaft, Ausbeutung und Elend gestürzt wird. Dabei hätte die Einführung der D-Mark, so die Autoren, „mit Leichtigkeit von der DDR selbst bewerkstelligt werden können“. Strafverschärfend wirkt sich aus, daß der Kapitalismus gar nicht richtig kommt: „Der Anschluß“ hat mit der Einführung der Marktwirtschaft „wenig zu tun, denn er ist damit verbunden, die vorhandenen Märkte gerade zu zerstören“.

Im Gegensatz zu solch delirantem Geschwätz ist Joscha Schmierers Verteidigung von Christa Wolf in Form einer Attacke auf Frank Schirrmacher ernstzunehmen, der die Intellektuellendebatte in der 'FAZ‘ begonnen hatte. Schirrmacher greife Christa Wolf als Symbolfigur einer geistigen Souveränität der DDR an. Seine Kritik ziele letztlich darauf, jeden politischen Legitimationsbedarf des neuen Gesamtdeutschland zu verneinen und tendenziell den Staat gegen die zivile Gesellschaft zu stärken. Am Ende, so Schmierer, könne dabei eine deutsche Staatsautorität herauskommen, die „mehr mit der DDR als mit der Bundesrepublik zu tun haben mag“.

Tatsächlich darf man gespannt sein, wie sich das vehemente Plädoyer der 'FAZ‘ für Zivilcourage, demokratische Freiheiten und antitotalitäre Revolutionen zukünftig entwickeln wird. Allein die täglich ein Stück mehr Wirklichkeit werdende multikulturelle Gesellschaft wird zur Erprobung dieser Tugenden Anlaß genug bieten.

Die Utopie blamiert

die Wirklichkeit

Doch auch Schmierer weicht der Frage aus, die Schirrmacher zu Recht gestellt hat: Kann es sein, daß ein großer Teil der Intellektuellen die Wirklichkeit des Totalitarismus überhaupt nicht bemerkt hat?

Oder andersherum: Warum ist es im Zweifel immer die Wirklichkeit gewesen, die sich an der Utopie blamierte, während die Utopie nie an der Wirklichkeit scheiterte, sondern im sozialistischen Diskurs für alle Zeiten aufgehoben scheint?

„Die sozialistische Welt steht heute am Vorabend einer Renaissance des Marxismus“, prophezeite Georg Lukacs 1970 nach der Lektüre von Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch ('Freibeuter 44‘).

Auch zwanzig Jahre später noch hofft Oskar Negt auf eine „sozialistische Renaissance“. Das Christentum habe sich schließlich auch trotz seiner Blutspur der Inquisition behauptet.

Offensichtlich ist der Glaube an die Katharsis, an den letztlich doch gelingenden transzendenten Durchbruch gerade unter den Intellektuellen weit verbreitet, die sich zugleich gegen jede Frage moralisch empören, welche nichts weiter meint als die genuine Verantwortung, die Reden und Handeln ihnen auferlegt.

Die rabiateste und radikalste Methode, an dieser Frage vorbeizustürmen, hat Heiner Müller, frischgebackener Präsident der „Akademie der Künste“ der DDR, in seinem jüngsten 'Transatlantik'-Interview entwickelt. Kein Wort linker Selbstreflexion oder gar Selbstkritik, dafür jede Menge Futter für Liebhaber eines krachenden Nihilismus endgültiger Kalenderspruchweisheiten. Wie Dampfhammerschläge jagen sich die zentralen Begriffe in der postkommunistischen Suada, die keine Sekunde darauf verzichtet, recht behalten zu wollen.

Auschwitz und zwei Bratwurstbuden

„Auschwitz ist der Altar des Kapitalismus“. „Humanismus ist die Ideologie der Maschine.“ „Die Sinnlichkeit wird von den Maschinen kolonisiert. Dagegen helfen nur Drogen.“ „Denken ist Schuld.“ Ein Knaller nach dem anderen. Auschwitz, Maschine, Kapital, Objekt: „Es geht um zwei Bratwurstbuden. Bei der einen gibt es etwas mehr Ketchup und bei der anderen mehr Senf. Das Ganze reduziert sich auf zwei verschiedene Arten, den Leuten die gleiche Wurst anzudrehen.“

Die Hermetik des elaborierten Schwachsinns entspringt noch dem alten historisch-materialistischen Denken, das Heiner Müller in einer negativ gewendeten Pseudo-Transzendenz erfolgreich vermarktet. Geschichtsphilosophie als schwarze Messe apodiktisch vorgetragener Leersätze.

Keine Spur von „posttotalitärer Melancholie“, die Tzvetan Todorov in 'Lettre International‘ beschreibt: „Man wird mir sagen, daß die Melancholie, von der ich spreche, eine verständliche, aber vorübergehende Reaktion ist, daß diese Schwierigkeiten vorbeigehen werden, und daß doch alles gut gehen wird. Das stimmt; aber es stimmt auch, daß das Leben in der Zwischenzeit vorübergeht.“

Wem also „gehört“ die Geschichte?

Vermutlich denen, die sich wirklich mit ihr auseinandersetzen.

Kursbuch 100. Rotbuch Verlag, Berlin, 13 DM

Neue Rundschau, Heft 2. S.Fischer-Verlag, Frankfurt a.M., 15 DM

Merkur, Heft 6/1990. Klett-Cotta, Stuttgart, 15 DM

Widerspruch. Heft 19/Juni 1990, Zürich, 12 SFr

Kommune 7/90. Frankfurt a.M., Postfach 11 11 62, 8 DM

Freibeuter 44/1990. Wagenbach-Verlag, Berlin, 12,5o DM

Transatlantik 7/90. München, Postfach 14 05 64, 8 DM

Lettre International 9/1990. Berlin, 13 DM