„Wir waren zu dritt und haben 183 Leute beraten“

■ Ein Besuch in den Ostberliner Sozialämtern Hellersdorf und Prenzlauer Berg / Neue Aufgaben, neue Gesetze - und viel zu wenig Personal / Doch die meisten Klienten stellen noch sehr bescheidene Ansprüche / Besondere Probleme haben Mittellose, die ihr Konto Dritten „ausliehen“

Hellersdorf/Prenzlauer Berg. Dienstag morgen zum Hellersdorfer Sozialamt. Mit der U-Bahn bis in den Norden des jüngsten Ostberliner Stadtbezirks. Vom Bahnhof „Cottbuser Platz“ die gleichnamige Straße entlang, üppiges Grün und Blumen vor den Viergeschossern. Auf Erdhügeln geht der Wind in die wilde Kamille. An der nächsten Ecke in die Cottbuser Straße hinein. Ein paar Siedlungshäuser mit Gärten neben der Schule, vor der Kinder herumtoben. Ansonsten bis zum Horizont scharfkantige Neubauschachteln.

Cottbuser Straße 22, äußerlich ein sechsstöckiges Wohnhaus. Hier saß bisher in den unteren Etagen die Ratsabteilung Gesundheits- und Sozialwesen, jetzt ist vom Erdgeschoß bis in den zweiten Stock das Sozialamt eingezogen. Kurz nach acht. Drinnen findet man auf den engen Treppenabsätzen bereits einige Stühle besetzt.

„Die ersten warten schon seit halbacht“, erklärt Hans -Jürgen Steffen, Leiter des Amtes 3, Sozialhilfe und Ausländerangelegenheiten. Entsprechend dem Westberliner Modell ist jedes der elf neuen Stadtbezirks-Sozialämter in vier Ämter gegliedert. Seit dem 1. Juli gilt das Sozialhilfegesetz der DDR. Die Grundsätze seiner Anwendung erlernten die MitarbeiterInnen der Sozialämter in einem zweitägigen, vom Magistrat organisierten Seminar mit Referenten aus dem Westberliner Senat. Dort gibt es zum Gesetz Hunderte Ausführungsbestimmungen, ganze Aktenordner voll. Noch unterscheiden sich die Dimensionen erheblich. Im Sozialamt Hellersdorf kümmern sich derzeit sechs feste MitarbeiterInnen und ein Leiter um 130.000 Einwohner (geplant sind bis Dezember 24 plus drei), im Partnerbezirk Tiergarten 50 KollegInnen um 90.000 dort Wohnende. Die bisherigen DDR-Sozialleistungen laufen zudem bis Jahresende weiter. So füllen sich auch an diesem Dienstag in Hellersdorf die Flure mit Müttern, die das staatliche Kindergeld abholen wollen, älteren BürgerInnen, die wegen ihrer Unterstützung gekommen sind.

Sprechstunde ist - von der Magistratsverwaltung Soziales so empfohlen - montags, dienstags und freitags von 8.30 Uhr bis 12 Uhr, dienstags auch von 13 bis 18 Uhr. Zehn vor halbneun, rasches Frühstück in einem der zu Amtsstuben umgebauten Zimmer. Eine Mitarbeiterin brüht nach Wunsch Kaffee oder Tee, erzählt dabei vom Sturm aufs Amt am vergangenen Dienstag. „Da haben wir zum erstenmal nach dem 1. Juli Geld ausgezahlt. Wir waren bloß zu dritt und haben 183 Leute beraten.“

Punkt halb. Sofort bildet sich vor dem Sekretariat eine Schlange. „Bitte die Personalausweise abgeben, zwecks Abfertigung“, fordert ein handgeschriebenes Schild. Monika Leonhardt, noch im Gesundheitswesen und „erst mal aushilfsweise“ hinter diesem Schreibtisch, bleibt keine fünf Minuten sitzen. Nachdem sie die Angekommenen notiert hat, springt sie auf und bringt die Ausweise in die zuständigen Büros. Innerhalb einer halben Stunde stehen zwanzig Leute in der Liste. Tür auf, Tür zu, Kinder schnattern, das Wartezimmer füllt sich. Frauke Wustmann arbeitet erst seit ein paar Monaten hier. Schwierigkeiten mit den komplizierten Regelungen? Nein, sie komme da ganz gut klar. 50 Minuten dauert das Gespräch mit einem Ehepaar, die auch schon früher Sozialfürsorgeempfänger waren. Er ist arbeitslos, ohne Arbeitslosengeld. Ihr Arbeitsverhältnis ruht wegen Schwangerschaft. Einzige Einkünfte sind das Kindergeld und der Unterhalt für ein Kind, 185 Mark. Der Bedarf wird nach dem gesetzlichen Regelsatz ermittelt: 400 DM für den Haushaltsvorstand (die mehrverdienende Person), 320 DM für den Mann (weiteres Familienmitglied ab 19. Lebensjahr), je 200 für die Kinder (bis zum 7. Lebensjahr). Die beiden werden rausgeschickt, unterdessen rechnet Frauke Wustmann Bedarf und Einkünfte gegeneinander, schreibt eine Rechnung aus. 935 Mark können sie sich an der Kasse abholen. Das Gesicht der nächsten Antragstellerin wird immer länger. „Rund 60 Mark würden Sie bekommen. Wenn Sie trotzdem einen Antrag stellen wollen, brauchen wir auch das Einkommen ihrer Eltern.“ „Wieso denn, die sind für mich doch nicht zuständig!“ „Allerdings. Wieviel haben Sie auf dem Konto?“ „Dreitausend, ist aber nicht unser Geld.“ „Für mich ist das Ihr Konto.“ Der Amtsleiter, der während der Sprechstunde durch die Büros geht, ergänzt: „Wenn Sie für Bekannte getauscht haben, war das unrechtmäßig, schließlich haben Sie unterschrieben.“ Bedient verläßt die junge Frau den Raum.

Unangenehmes aussprechen zu müssen, gehört für die MitarbeiterInnen des Amtes zum Alltag. Sie nehmen's gelassen, bleiben freundlich. Frauke Wustmann erzählt von einem wütenden Mann, der „Knete sehen“ wollte und schließlich ausrastete: „Hier sitzen ja dieselben roten Schweine wie früher.“ Wie sie damit fertigwerde? „Och, was soll ich mich hier hochschaukeln.“ Zwischendurch schaut eine Kollegin ins Zimmer, die sich sich über die Stimmung heute freut, „ganz anders als vor einer Woche, da waren die Leute so auf Revolte aus“.

In Prenzlauer Berg bietet sich am Nachmittag ein ganz anderes Bild. Auf den Gängen von Haus 2 des Prenzlauer Berger Ratsgeländes in der Fröbelstraße halten sich nur wenige auf. „Vormittags war es voller“, meint der Bezirksstadtrat für Soziales, Reinhard Kraetzer. Allerdings hat das hiesige Sozialamt in den ersten beiden Juliwochen seine Tore täglich geöffnet, in dieser Zeit 439 Menschen Sozialhilfe bewilligt. Die langjährigen Sozialfürsorgeempfänger wurden vorher informiert. Von den bisher 78.000 DM gezahlter Sozialhilfe fordert das Amt 30.000 vom Arbeitsamt zurück, Vorschußzahlungen für Mittellose, deren Anträge auf Arbeitslosengeld erst bearbeitet werden müssen. Karin Dinse, früher stellvertretende Stadtbezirksärztin und nun Leiterin des Amtes 3, berichtet von den ersten Erfahrungen mit dem Sozialhilfegesetz. Neu sei der sozialhilfebedürftige Kreis von Bürgern, „die in die Arbeitslosigkeit geraten sind. Viele haben aus Unkenntnis selbst gekündigt und bekommen nun kein Arbeitslosengeld“. Ein anderes Beispiel: Einem Mann über 50 - vor kurzem aus einem Dienstleistungsbetrieb entlassen, seit Jahren Mietschuldner, in einer „sehr verzwickten familiären Situation“ - verlangt die KWV nun 7.000 DM auf einmal ab. Kraetzer wirft ein: „Erst hat die KWV ewig geschlampt, jetzt fordern sie alles auf einmal ein.“

Was im Sozialamt demnächst zu verändern sei? Auf die Sozialhilfe bezogen, müsse das Bestellsystem ausgebaut und neu strukturiert werden. Die Vorhaben des Amtes gehen darüber hinaus, erklärt der Sozialstadtrat. Bis zum Herbst soll ein Obdachlosenheim eingerichtet werden. „Den vier Obdachlosen, die sich bisher bei uns gemeldet haben, konnten wir noch eine Wohnung vermitteln“, so Kraetzer, „aber das Problem kommt auf uns zu.“ Ein Pilotprojekt sei das geplante Haus für Jugendliche, die mit 18 Jahren aus dem Heim entlassen werden. „Den 20, die im Herbst in den Prenzlauer Berg kommen, wollen wir diese Möglichkeit des 'befürsorgten Einzelwohnens‘ anbieten.“

Susanne Steffen