Mit dem Rücken zur Wand

■ Die andere Seite: In Ost-Berlin, wo Mauer noch Gefahrenzone hieß, war ein stilisiertes Arrangement mit dem "antifaschistischen Schutzwall" wie in West-Berlin nicht möglich.

Mit dem Rücken zur Wand

Die andere Seite: In Ost-Berlin, wo Mauer noch Gefahrenzone hieß, war ein stilisiertes Arrangement mit dem „antifaschistischen Schutzwall“ wie in West-Berlin nicht möglich.

Von

TORSTEN PREUSS

s war 1978. Ich war damals 15 Jahre alt und mit zwei Freunden aus Dresden nach Berlin, Hauptstadt der DDR, gefahren, um ein Rockkonzert auf dem Alexanderplatz mitzuerleben. Das Konzert fiel aus, den allmächtigen Staat hatte wieder die Sorge um seine öffentliche Ordnung und Sicherheit umgetrieben. Frustriert über „die alten Säcke da oben“, zogen wir über die Otto-Grotewohl-Straße, immer an der Mauer entlang. Einer von uns zeigte auf den Mercedesstern, der, einer Fata Morgana gleich, so nah und doch so unerreichbar für uns vom Westberliner Europa-Center flimmerte. Keine fünf Minuten später stellte sich mit quietschenden Reifen ein ziviler Wolga und ein Streifenwagen der Volkspolizei quer vor uns auf den Bürgersteig. Ohne jede Chance zu erfragen, was denn hier gespielt wird, wurden wir am Kragen gepackt und „zugeführt“.

Auf dem Revier und später in der Untersuchungshaft in der berüchtigten Keibelstraße machte man uns klar, daß wir als „Verdächtige im Grenzgebiet“ eine Weile beobachtet wurden und im „entscheidenden Augenblick von den aufmerksamen Staatsorganen der DDR an der Durchführung eines gemeinschaftlichen, illegalen Grenzübertrittes“, sprich Republikflucht, gehindert wurden. Der Vorwurf war so absurd und wir so jung, daß nach zwei Tagen der Hauptvernehmer Erfolgsmeldung nach oben und Erklärungsnot nach außen - also meiner Schule und meinen Eltern gegenüber - abwog und entschied, uns laufen zu lassen. Da sich die Stasi aber nie irrte, mußte Strafe sein, und wir bekamen die Auflage, die Hauptstadt sofort zu verlassen, und obendrein ein einjähriges Berlin-Verbot.

Durch die so deprimierend offen zur Schau gestellte Ignoranz der einfachsten Menschenrechte kam mir damals der furchtbare Gedanke, daß mein ganzes Leben von dieser Mauer und ihren Erbauern so allmächtig reguliert werden kann, daß all meine Neugier auf die ganze Welt im Keim erstickt würde. Es schien mir in der Tat so, daß ich das Unglück hatte, „drinnen“ geboren worden zu sein. Noch hoffnungsloser machte mich, daß sich die Menschen merkwürdigerweise ihrem Schicksal ergeben und sich über die Jahre in dieser Massenhaft eingerichtet hatten. Im allgemeinen Bewußtsein war die Aversion gegen diese gigantische Beschneidung hintergründig zwar immer vorhanden, aber gerade daß dieses Wissen nicht umgesetzt wurde in die offene Verweigerung gegen diesen Staat, der seinen eigenen Bürgern derartiges zumutete, ja noch als Errungenschaft verkaufte, war für mich die Bestätigung, daß diese Mauer so lange stehen würde, wie das Volk, also auch ich, es zuläßt.

Aber die Menschen hatten sich dem Zwang ergeben und kompensierten den Fakt des Eingeschlossenseins mit der Verklärung des trotzdem Erreichten zum Erhaltenswerten, das man lieber nicht aufs Spiel setzte. Wenn die SED Wahlen gefälscht hat, dann nicht von 55 Prozent, sondern, größenwahnsinnig wie sie waren, von vielleicht 95 auf 99 Prozent der Jastimmen. Die Menschen hatten mit dem Staat eine Art „kalten Frieden“ geschlossen. Sie erklärten sich das Unnormale zum Normalen und zogen sich ins Private zurück. Daß diese Mauer überhaupt existieren konnte, war für mich damals Beweis ihrer Ewigkeit.

päter, als ich noch viel mehr Erfahrungen in diesem Land sammeln konnte, wurde sie für mich die zu Stein gewordene Kapitulation einer als human angetretenen Gesellschaft dem Recht des einzelnen gegenüber, sein Leben selbst zu gestalten. Der Beton zementierte das diktatorisch aufgezwungene „Ende der Welt“ für einen Typus Mensch, der, siebzehnmillionenmal gleichgeschaltet, das Denken in die Hände einer selbsternannten, allwissenden Führungsclique legen sollte. Jetzt, wo der Jubel über die wiedergewonnene Normalität fast schon wieder dem Alltag gewichen ist, darf die Frage nicht unbeantwortet bleiben, ob es eine Schuld von uns allen an diesem gesellschaftlichen Desaster gibt. Ich meine, ja.

Erst als sich in Ungarn die Möglichkeit ergab, dieser gigantischen Freiheitsberaubung relativ gefahrlos zu entkommen, begriffen sich die Menschen als die entscheidende Kraft, die gesellschaftliche Realität zu verändern. Daß sich bis dahin jeder auf seine Art und Weise, hüben wie drüben, mit diesem jeder Zivilisation hohnsprechenden Monstrum von Jahr zu Jahr mehr abgefunden hatte, ist eine Niederlage für jeden einzelnen von uns.

Als ich von meinem Ausflug damals nach Hause kam und berichtete, war die Empörung groß. Gleichzeitig aber kam der Vorwurf: Das hättet ihr wissen müssen, denn in der Nähe der Mauer muß man immer vorsichtig sein. Mit der kollektiven Ausgangssperre hatte man sich in der Kaserne DDR viel zu schnell abgefunden. Aber warum wurden Selbstschußanlagen und Tretminen überhaupt als Faktum akzeptiert? Vom Westen kamen zum größten Teil immer nur Verbalattacken, die an der Existenz des Betonwalls nicht einen Millimeter geändert haben. Mit wachsendem Wohlstand beschränkte sich die Solidarität immer mehr aufs Mitleid. Daneben flossen weiterhin Milliarden an die Zeichnungsberechtigten des Schießbefehls, ergoß sich wahlkampfbestimmte Protestrhetorik über die DDR, deren Führer und Lakaien trotzdem - mal heimlich, mal mit allen Ehren - empfangen wurden. Ein Schußwaffeneinsatz zog routinemäßig „ernste Proteste“ nach sich. Es galt, die internationalen Beziehungen nicht weiter zu komplizieren.

Mit dem Hinnehmen der entstandenen Realität wurde durch die Politik der kleinen Schritte der Fall der Mauer auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. Der Umgang mit ihr wurde einfacher, weil weniger radikal. Ein Großteil der westdeutschen Linken verrenkte sich lieber den Hals beim Erspähen von Ungerechtigkeiten überall auf dem Globus, als den Blick auf das schreiende Unrecht vor der eigenen Haustür zu lenken. Sie handelten nach der Parole „Der Feind meines Feindes muß mein Freund sein“ und ließen die Menschen im Osten im Stich. Jetzt fehlt es ihnen an Glaubwürdigkeit, um eine Mehrheit für eine Alternative zum wohlstandsorientierten Ganzdeutschland zu bekommen.

ie Schlußakte von Helsinki wurde als großer internationaler Erfolg gewertet. Aber im Alltag der DDR brachte sie praktisch keine spürbaren Erleichterungen. Das Schriftstück bewies uns nur ein weiteres Mal, daß wir dem Staat und seinen Organen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Was er unterschrieb und was er davon hielt, entschied er alleine. Wer den Vertrag einsehen wollte, der mußte in der Bibliothek den Ausweis zeigen, wurde registriert und war fortan als gefährlicher Querulant auf der Liste der Staatsfeinde verewigt.

Als ein Freund bei der Bearbeitung seines Ausreiseantrages einmal auf die UNO-Menschenrechtscharta verwies, bekam er als Antwort die höhnisch gestellte Gegenfrage: „Wer sagt Ihnen denn, daß die DDR in der UNO ist?“ Ohnmacht als Lebensgefühl ganzer Generationen, die darin vergaßen, Widerstand zu leisten.

Ansonsten hatte man im Westen längst angefangen, sich im Schatten der Grenze einzurichten. Für manche brachte sie sogar den Vorteil, eine Ausrede zu sein für die eigene Bequemlichkeit, sich mit dem anderen Staat vor Ort zu beschäftigen. Hinter ihr begann „Armenland“ und bewahrte sie davor, den eigenen Wohlstand teilen zu müssen. Für den Westberliner war die Mauer nicht das Ende, sondern der Anfang der Welt. Ziemlich häßlich zwar, aber eben offen. Millionen Touristen kamen in die Halbstadt, knipsten sich ein Stück Gruselatmosphäre auf den Farbfilm und staunten über die Fähigkeit des Menschen, etwas so Unmenschliches zu erbauen und auch noch stehenzulassen.

Daß der von der SED genannte Grund zur Errichtung dieser Grenze eine Lüge war, zeigte sich noch in den siebziger Jahren auf Fotos, die in den Geschichtsbüchern der Schulen zu sehen waren. Darauf standen die Soldaten nicht etwa mit dem Gewehr in der Hand Auge in Auge zum abwehrenden Klassenfeind, sondern im Gegenteil mit der Waffe zum eigenen Volk und das Brandenburger Tor im Rücken. Jeder DDR-Bürger wußte somit, daß er selbst als das größte Risiko für den Sozialismus a la SED galt. Als am 9. November diese Abnormalität, in der Mitte von Europa eingemauert und abgetrennt von den westlichen Völkern dieser Welt dahinzudümpeln, zusammenbrach, entlud sich das bei jedem einzelnen in der totalen Erleichterung, endlich diesem schizophrenen Zustand, ohnmächtig seiner eigenen Aussperrung zugeschaut zu haben, entkommen zu sein. Endlich brauchte man nicht mehr ständig die Frage an sich selbst zu richten, warum man das alles mit sich machen läßt. Weil man sich darauf auch selbstkritisch antworten müßte, sagte man nur noch „Endlich alles vorbei“, zeigte, mit dem Rücken zum Spiegel stehend, auf Erich und die Kommunisten und freute sich auf den ungehinderten Zugang zu den Konsumtempeln der anderen Seite.

In West-Berlin sieht man zuerst das neugewonnene Umland, meint aber, daß man selbst mit der Existenz der Mauer nichts zu tun hatte. Obwohl man mit ihr gelebt hatte, war man ja immer dagegen. Damit war der Widerstand auch schon erschöpft. Alle sind jetzt glücklich, aber die Mitverantwortung jedes einzelnen für 28 Jahre Mauer werden die Bulldozer der vereinten Abrißbrigade nicht so leicht vom deutschen Boden schieben können wie die Fragmente dieser Beton gewesenen Aufforderung, nachzudenken, warum fast 80 Millionen Menschen so lange mit einem Todesstreifen in ihrer Mitte leben konnten.