160 Kilometer Kunst?

■ Berlin ist eines Wahrzeichens verlustig gegangen: die bemalte Seite der Mauer hatte längst Funkturm und Charlottenburger Schloß als Sehenswürdigkeit überrundet. Der klägliche Rest ist die totale Vermarktung.

160 Kilometer Kunst?

Berlin ist eines Wahrzeichens verlustig gegangen: Die bemalte Seite der Mauer hatte längst Funkturm und Charlottenburger Schloß als Sehenswürdigkeit überrundet. Der klägliche Rest ist die totale Vermarktung.

Von

STEFAN EGGERT

aß viele Menschen Künstler sein wollen - in Abwandlung der These von Joseph Beuys, jeder Mensch sei ein Künstler zeigt sich nirgendwo so deutlich wie an der langsam entschwindenden Mauer. Doch lange bevor sie Wandzeitung, Klagemauer, Grundfläche für Nonsens und künstlerischen Dilettantismus geworden ist, war sie eine Sehenswürdigkeit. Es fragt sich, wieviele Sternchen der alte Karl Baedeker dem Bauwerk zugestanden hätte. Bei einem Berlin-Besuch nicht an der Mauer gewesen zu sein, hieße soviel wie in Paris den Eiffelturm oder in Rom das Kolosseum nicht gesehen zu haben. Die Postkartenindustrie kam den Schaulustigen entgegen und verewigte die leichtverständlichen Blicke auf und über die Mauer.

Zwischen Schrecken, Zynismus, Kunsthandwerk und alternativer Romantik schwankt die Bandbreite von Angebot und Publikumsgeschmack. Leider ließ sich die Mauer bis vor kurzem nicht wie der Eiffelturm oder das Kolosseum auch als Schlüsselanhänger, Ohrclip oder Aschenbecher vermarkten. Als Gesamtobjekt war sie nicht handlich und repräsentativ genug, denn die Mauer konnte bisher nur als ein undurchlässiger Schutzwall vorgestellt werden. Doch dieses Dilemma hat ja nun ein Ende, selbst wenn die Souvenirindustrie hinter der Schnelligkeit der kleinen Händler mit ihren Postern und Postkarten noch hinterherhinkt. Auch wenn sich, kunsthistorisch betrachtet, ein besprühtes Stück Beton nicht im geringsten von einem echt Graffitti-geweihten Stück Mauer unterscheidet - darüber werden sich sicherlich bald die Experten streiten -, so hängt doch dem Bauwerk eine kaum zu reproduzierende Aura an.

Die Mauer war und ist aber noch viel mehr: Symbol der politischen Trennung zwischen Ost und West, Nato und Warschauer Pakt, Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Menschen von „hüben“ und „drüben“. Symbol? Mythos? Zur Mythenbildung ist die Mauer noch zu jung und muß erst zum Fragment ohne Funktion gemacht werden - wie der Anhalter Bahnhof oder das ehemalige Gestapogelände - oder vollständig verschwinden und damit zur Legende geworden sein, wie der Sportpalast oder das Romanische Cafe.

„Die Mauer ist die Mauer - und das ist ein Mißbrauch, der weder mit Kunst noch mit Politik zu tun hat, die mit irgendwelchen Sachen zu bemalen und das dann als Postkarte zu verkaufen... Die Mauer ist kein Spielzeug, da sind eine ganze Menge Leute erschossen worden, und der Einschnitt der Mauer ist für die Leute, die damit gelebt haben, gar nicht witzig.“ (Dieter Hoffmann-Axthelm, taz, 18.11.1989, S. 35.) Der dies gesagt hat, ist ein Theoretiker sozialer Städteplanung und kein Mitarbeiter vom Document-Center des Kalten Krieges, dem Haus am Checkpoint Charlie.

s wäre nichts gegen spontane Unmutsäußerungen in gemalter, gekleckerter oder gesprühter Form einzuwenden, solange der Zorn und die Hilflosigkeit gegen die Mauer auch authentisch bliebe und nicht mit einem inszenierten Kunstwollen um des Spektakels und der Touristen willen leicht verwechselt werden würde. Der wirkliche Protest gegen die Mauer wurde an Publicity-trächtigen Orten kunsthandwerklich umgebogen und zur lustigen Staffage degradiert. Die Ungarn hatten es vorgemacht und ihren Stacheldraht mitsamt Echtheitszertifikat in alle Welt verkauft. Die DDR-Regierung hat erst Ende Januar jeglichen Skrupel überwunden und den Ausverkauf der Mauer in eigener Regie marktwirtschaftlich profitabel inszeniert. So wird jetzt Stück für Stück der ordnungsgemäße Abbau des ehemals „antifaschistischen Schutzwalls“ betrieben und in einer Freiluftgalerie im Niemandsland zwischen Kreuzberg und Bezirk Mitte an die Meistbietenden feilgeboten.

Die buntbemalten Flächen sind natürlich die begehrtesten, und in bunte Steinchen zerlegt ist die ehemals tödliche Funktion der Mauer nicht spürbar, kann also auch schnell vergessen werden. Der Direktor des umstrittenen Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzel, scheint den Marktwert von Geschichte erfahrungsgemäß richtig einzuschätzen: „160 Kilometer lang und vier Meter hoch, das sind ja unglaublich viele Quadratmeter Kunst. Sie können ja bei einer Galerie fragen, wie da der Quadratmeterpreis für Neue Wilde ist, dann kann man das hochrechnen.“ (taz, wie oben; mittlerweile hat sich der Wert der bemalten Segmente wie folgt gestaltet: 1,60m x 3,60m (2,6 Tonnen) 500.000 Mark, der Erlös soll dem Gesundheitswesen und der Denkmalpflege zugute kommen).

Zwar offenbart Stölzel mit diesen Worten seine Wertschätzung bestimmter Tendenzen in der Kunst, die er bei näherer Befragung sicherlich differenzierter vorbringen würde, doch deutet er ungewollt auf die Gründe für die Beliebtheit der Mauerbilder. Durch die oberflächliche, bunte und figürliche Gestaltung einer Großfläche wird das Dahinterliegende konsumierbar, verliert seinen Schrecken und seine Häßlichkeit. In ähnlicher Verkennung wurde auch moderne Kunst zur Dekoration gemacht, indem sie einerseits von vielen Scharlatanen nachgeahmt und posthum zur Kunst erklärt wurde - woran die Galerien ihren Anteil hatten andererseits wurde dagegen oft nur die Oberfläche von Kunst goutiert. Deren Farbigkeit, ihr Schwung, ihre pastösen und formalen Qualitäten wurden unabhängig von künstlerischen Konstruktionsprinzipien als Abziehbild einer sinnlichen Ausdrucksform bewundert. In lockerer Konsumhaltung wird mittlerweile alles gleich und beliebig in einem Topf verrührt: die bunte Mauer, die Wilden, die gemusterte Tapete, die Werbung, der Pop-Film und die neueste Haute Couture. Die Differenzen verschwinden, alles ist Kunst, alles ist Happening, alles ist Werbung. Der Hintergrund die Mauer - verschwindet. Blut ist kein organischer Saft mehr oder ein Zeichen für Verletzung, sondern vordergründig eine Farbe, die suggestiv wirkt.

as Begehren nach der bunten Oberfläche ist groß. Der Familienausflug mit Hammer und Meißel an die Mauer ist Hauptprogrammpunkt der Winter- und Frühlingssaison, bevor die touristisch unerschlossenen Gebiete in der Umgebung Berlins restlos okkupiert werden. 28 Jahre lang hat sich durch die Insellage West-Berlins ein Energiestau in den Menschen gebildet, der sich vornehmlich nach innen abreagiert hat oder auf den Reisen in alle Orte der Welt. Die Mauer im Kopf war wohl noch wirksamer als das Brett vor demselben (als Berliner darf man das sagen).

Nun entlädt sich die aufgestaute Energie in den Verbrüderungsszenarien und den rauschenden Festen am Brandenburger Tor, die schon einmal mit einem tödlichen Delirium geendet hatten, als ein schwankendes Gerüst unter den Tanzschritten nachgab. Das Ereignis der Maueröffnung hat einen fast religiösen Charakter bekommen, da es einem Wunder gleicht, an dem alle Menschen aus aller Welt teilhaben wollen. Die Mauer ist Wallfahrtsort, und ihre Einzelteile sind zu Reliquien geworden. Der Gemeinde gehört an, wer die Initiationsriten durchlaufen hat: Auf der Mauer wenn schon nicht tanzen so doch flanieren, Steinchen meißeln, Rundgang um das Tor zwischen Ost und West, Foto machen - alle diese Handlungen scheinen wiederum die Gefahr der Verharmlosung der wirklichen Differenzen zwischen Ost und West zu offenbaren.

West-Berlin profitiert vom Mauer-Boom, denn nach der 750 -Jahr-Feier und der „Kulturstadt Europas“ ist der 9. November und seine Folgen das touristische Großereignis der Jahre 1989/90. Mit dem ordnungsgemäßen und systematischen Abriß der Mauer seit Mitte Juni war allerdings der Sättigungsgrad an Spektakeln überschritten, was daran liegen mag, daß Stadtpolitiker bei weitem nicht so glaubhaft und populär wirken wie die Open-Air-Konzerte, von denen eines „The Wall“ heißt und dieselbe musikalisch demontiert. Danach wird man die Mauer nicht mehr sehen können und wollen, auch wenn viele davon ein Stückchen daheim aufbewahren werden.

Verschwinden auch die Mauern zwischen den Menschen und in unseren Köpfen, wenn keine Grenzen mehr bestehen, die Währung und die Verfassung einheitlich ist? Die Nachkriegsgeschichte Berlins erinnert an den Gründungsmythos der Stadt Rom: Romulus und Remus stritten sich um die Herrschaft der gerade gegründeten Stadt, und Romulus ließ eine Mauer um seinen Bereich ziehen, welche Remus in ihrem halbfertigen Zustand übersprang, fragend, wie eine so kümmerliche Mauer Schutz sein könne, woraufhin er von seinem Bruder im Zorn erschlagen wurde. „So soll jeder Feind verderben, der die Mauern meiner Stadt überquert“, sprach Romulus, der jedoch beim Begräbnis seines Bruders in reumütige Tränen ausbrach.

Die moderne Geschichte der Stadt Berlin scheint einen ähnlichen Anfang zu nehmen. Indessen wurde die Ostseite der Mauer bemalt und ebenfalls als Reliquie zerstückelt und verkauft. Die ersten Initiativen zum Erhalt der Mauer an zentralen Punkten haben sich gebildet. Die Mauer kann niemand mehr sehen, weil sie überall ist.