Die Seine erzählt

 ■ Beobachtungen an einem Großstadtfluß

Von Jan Nicolaisen

Der Fluß erzählt die Geschichte seiner Stadt. Er ist ein raffinierter Erzähler, schlägt Bögen, taucht unter und gibt Rätsel auf. Man braucht Zeit, um ihn zu verstehen. Er hat davon genug. Die Seine gibt keine Interviews. Aber wenn man genau hinsieht, zeigen sich Spuren vom längsten Gespräch, das Paris kennt: Spuren vom Dialog, den die Pariser mit ihrer Seine führen. Bis heute.

Unterwegs an der Seine, Rive Gauche nach Westen. Im weiten Bogenschlag des Flußknies. Der Eiffelturm beschließt vorerst das Paris der Touristen. Er verschwimmt im Nebel, ich kehre ihm den Rücken. Eine langgezogene Insel trägt zwei Brücken und drei Jogger, an ihrer südlichen Spitze steht eine verkleinerte Version der Freiheitsstatue. Dieser politische Edelkitsch in Stein mobilisiert noch heute: Votez Le Pen! hat man in weißen Graffitilettern auf ihren Rock geschmiert. Der kategorische Imperativ der extremen Rechten schreckt momentan in Paris niemanden auf. Le Pen ist mehr oder weniger spurlos aus den französischen Medien verschwunden. Und die weißen Buchstaben verschwinden auch bald unter den Abwürfen der Möwen.

Am Ufer. Grünlich-öliges Wasser, so fett, daß es eine Art Tischdecke aus Plastik- und Glasflaschen, Styroporstücken und Kieselsteinen trägt, die sich zwischen Kaimauer und den stählernen Schiffsrümpfen angesammelt hat.

Die rostigen Bäuche der offenen flachen Boote sind prall gefüllt mit Sand und Kies. Ganze Dünen von Sandbergen stapeln sich am Kai unter den Verlademaschinen. Hier siedeln Sandhandel und Betonfirmen.

Die Seine dient der Industrie als Transportweg. Mit ihrer Länge von 7.800 Kilometern und den Kanalverbindungen bilden Frankreichs Flüsse ein weitverzweigtes Verkehrsnetz, Paris ist darin ein Knotenpunkt. Seine Hafenufer sind intensiv genutzte Verladestellen, Umschlagstellen für den Beton und die Baumaterialien, mit denen sich Paris ins 21. Jahrhundert baut. Der grundsolide Unterbau von futuristischen Visionen in La Defense oder Marne la Vallee.

Am Wochenende, wenn sie nicht unterwegs sind, kann man hier endlose Wagenparks von orangefarbenen Betonmischmaschinen sehen. Hinter Stacheldraht lagern Ziegel und Fertigbauteile, scharf bewacht von Hunden. Damit niemand den Fortschritt klaut.

Weiter im Westen kommen Hausboote. Sie säumen das Ufer in langen Reihen, Inbegriffe der friedlichen Lebensweise: Grünpflanzen in Kastenbeeten, bunte Wäschestücke an der Leine. Auf den schmalen Stücken Uferrasen stehen Tische und Stühle. Sie müssen sich den Platz teilen mit Briefkästen, tiefhängenden Stromleitungen und ausrangierten Weihnachtsbäumen. Man hat sich eingerichtet.

Die Hausboote haben klingende Namen: Adonis, Mayflower, Sonate oder einfach Traum. Wenig traumhaft sind allerdings die Mietpreise, die ihre Bewohner an die Stadt zahlen: Pro Monat und Bootsmeter zahlt man hier 300 Francs. Bei zehn Metern macht das schon knappe 1.000 DM. Trotz aller Idylle bleibt es also dabei: Man mietet seine Naturnähe, und der öffentliche Flußraum parzelliert sich nach dem Einkommen seiner Benutzer.

Moderne Städteplaner scheinen eine internationale Aversion gegen Flüsse zu haben. Wenn möglich, baut man sie zu. Paris hat vielleicht wunderschöne Schnellstraßen, wenn man im Auto sitzt und den Ausblick genießen kann. Sie bieten den Insassen eine Hafen- beziehungsweise Seinerundfahrt in größerer Flußnähe, als sie die meisten Fußgänger je erleben. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern: eine schnelle Beziehung.

Die Schneise mehrspuriger Autobahnen trennt Fluß und Stadt nicht total, aber streckenweise gründlich. Uferstreifen werden unzugängliche Bereiche, geraten außer Kontrolle des städtischen Normalraums. Es entstehen eigenartige Niemandsländer mitten in der Metropole.

Im Ufergestrüpp auf dem Streifen zwischen Bahnschienen und Seine hat sich ein Stadtstreicher seine Unterkunft gebaut. Der hölzerne Verschlag lehnt gegen eine Mauer wie die Hälfte eines Zeltes. Er ist aus Türen, Brettern, Wellblechpappe und Plastiktüten zusammengeflickt. Davor steht ein Tisch mit Eßgeschirr und Rotweingläsern. Ein Ofenrohr ragt aus dem Verschlag, es raucht. Der Mann hat viele Scheite Holz gesammelt und ordentlich aufgestapelt. Er betrachtet mich mißtrauisch.

Er lebt hier allein mit seiner Katze, „meine einzige Gefährtin“, sagt er etwas mitleidheischend (um sie gleich anzuschnauzen, wenn sie seinen Befehlen nicht gehorcht). Sein Blick ist trüb vom Alkohol. Der über Fünfzigjährige stützt sich auf den Türrahmen. Seit zehn Jahren lebt er hier, keine drei Meter von der Seine. Gelegentlich arbeitet er auf Floh- und Gemüsemärkten als Packer. Eine Ausbildung hat er nicht.

Die Kälte macht ihm nichts aus. Sommer, Frühjahr, Winter, Herbst - alles gleich, sagt er. Der Rotwein macht die Heizung. Sein Fleckchen Erde ist im Sommer ein Treffpunkt von befreundeten Stadtstreichern, die ihre Ruhe suchen. Er hat sogar einen umzäunten Gemüsegarten, sauber und gepflegt. Ein Sofa steht da, ein Hauch von Wohnzimmer. Die Träume der Obdachlosen sind bürgerlich. Wer sie zu Abenteurern und Vagabunden stilisiert, kennt sie nicht oder sitzt eigenen Traumvorstellungen auf.

Diese Seineschleife gehört Renault, beide Uferseiten sind besetzt von Fabriken. Auch eine Seineinsel dient als Fabrikträger, sie sieht aus wie ein riesiges Schiff. Längsseits liegt ein offenes Boot, auf dem sich in zwei Etagen fabrikneue Renaults stapeln. Sie werden über die Seine abtransportiert. Der Fluß als vorweggenommene Autobahn.

Die Seine ist eine Art sozialer Seismograph der Stadt, durch die sie fließt. Zum Beispiel ihre Inseln: Die Ile St.Germain, ein ehemaliges Renault-Fabrikgelände, wurde zum sogenannten Erholungspark umfunktioniert. Die Pariser haben jeden Flecken Grün bitter nötig: Ganze 9,6 Quadratmeter Freifläche kommen auf einen Großstadtkopf, was nicht einmal Grünfläche bedeuten muß. Auch asphaltierter Sand ist darin eingeschlossen.

Die Insel bietet noch eine Seltenheit: Pferde. Es gibt eine Reithalle, wo Kinder wohlhabender Eltern lernen, wie man Pferde im Kreis führt. In den oberen Etagen der Reithalle - Zeichen der Pariser Raumknapp heit - liegen die Proberäume des Orchestre National Ile de France. Schubertklänge und es riecht dabei nach Pferdemist.

Für den großstädtischen Biologieunterricht wären gewiß einige Kühe nützlich, um den Kindern zu demonstrieren, was Melken bedeutet. Eine jüngere Statistik ergab, daß die entsprechende Phantasie vieler Pariser Kinder nur noch bis zum Kühlfach der Supermärkte reicht. Statt Kühe sieht man eine Handvoll Golfspieler, die üben.

Nur einen knappen Kilometer weiter nach Südwesten liegt bis auf den letzten Quadratmeter bebaut - eine Ausländerenklave. Araber hocken in höhlenartigen Bars, „Chez Ahmed“, auf den Straßen spielen Kinder. Weil es Mittag ist, setzt sich ein kleiner Kinderzug in Bewegung zur öffentlichen Sozialküche, wo sie ein kostenloses Mittagessen bekommen.

Ich sehe in einen Frisörladen, der Meister hat gerade ein Mädchen unter der Schere. Die ganze arabische Familie hat sich um den Stuhl versammelt, eine Art Fest. Die Prozedur wird von aufmerksamen Blicken und gelegentlichen Ausrufen begleitet, während die hübsche Primadonna entzückt im Mittelpunkt sitzt und sich lächelnd im Spiegel betrachtet.

Zwischen Golfspielern und Sozialküche liegen keine tausend Meter Fluß.

Im Norden taucht der Hochhauskomplex von La Defense auf, Verwaltungssitz der französischen Kapitalmächte. Spiegelglasfenster wachsen den Beton hoch. Gegenüber auf der anderen Seineseite steht das 1978 gegründete Umweltministerium - in symbolträchtiger Nähe zu seinen indirekten Arbeitgebern La Roche, Bayer, Fiat.

Der soziale Charakter des Arrondissements färbt auf seine Uferstreifen ab. Hier in Neuilly, dem Westend von Paris, wohnt die Upperclass in edlen Häusern mit falschen Marmorfliesen im Foyer und saftigen Mietpreisen. Hier sind keine Freakhausboote zugelassen. Die Seine trägt breite Nobelkähne mit hochfahrbarem Laufsteg, den grünes Plastikgras ziert. Am Ufer steht ein Zaun mit Pforte und Türsprechanlage, dahinter die numerierte Mülltonne. Wenn man sich nähert, bellt der Schäferhund. Da sie sich gegenseitig anregen, kann es ein ganzes Konzert dieser animalischen Alarmanlagen geben. Die großstädtische Angst vor Kriminalität macht an der Seine nicht halt. Der Yachthafen am Bois de Boulogne gleich hinter Stacheldraht.

Im Bois de Boulogne, dem Pariser Hauswald, befindet sich ein Zen trum allwöchentlicher kollektiver Wunschträume: die große Pferderennbahn. Mit seinen Einsätzen kann auch der sogenannte kleine Mann mitspielen, wenn er glaubt, daß sein Sachverstand - die Kenntnis der Rennpferde - das fehlende große Geld aufwiegt. Für die glücklichen liegen an der Seine einige teure Restaurant- und Barboote bereit, um zu feiern.

Die Pferderennbahn hat einen skandalösen Nachbarn: das Fluß - und Luftschlößchen La Bagatelle. Es verdankt ebenfalls einer (königlichen) Wette seine Existenz. Sein Bauherr hatte 1775 mit Marie Antoinette gewettet, daß er in nur zwei Monaten ein Schloß mit Wasserspeiern und Gärten errichten könne. Er gewann die Wette, aber verlor das Volk: Für das horrend teure Projekt wurden sämtliche Fuhren mit Baumaterialien an den Toren von Paris beschlagnahmt, was die Stimmung der Bevölkerung gehörig in Richtung Revolution bewegte.

Ob König oder Kapital, die herrschende Klasse siedelt in Paris gerne an der Seine.

Revolutionäre Vergangenheit und kaufmännisches Geschick gehen heute Hand in Hand. Während der Revolutionsfeiern 1989 hat die Geschichte in La Bagatelle ihr kommerzielles Nachspiel: Man verkauft dort Ohrringe mit brisantem Motiv eine Guillotine mit Sansculottenmütze. Samt Beil und ohne Kopf kostet der Spaß 2.000 DM. Die Französin trägt ihre Vergangenheit mit (teurer) Fassung - aus Gold.

Man kann über diese unbekümmerte Aneignung von Geschichte den Kopf schütteln. Aber sie ist vielleicht ehrlicher als die derzeit inflationäre Beschwörung der drei großen Worte von damals (Freih., Gleichh., Brüderl.). Und 1989 schien es unter französischen Politikern einen heimlichen Wettbewerb zu geben, wer diese Leerformeln am häufigsten gebrauchen kann. Das ist der Pathos zum Termin.

Die ganz persönlichen Beziehungen vieler Pariser zur Seine laufen über die Angelschnur. Es gibt die verschiedensten Anglertypen. Den wortkargen Einsamen, der auf möglichst unzugänglichem Uferstück steht. Den sportlichen Typen mit perfekter neuer Ausrüstung, die er lässig vorführt. Seine technischen Utensilien hat er wie zufällig um sich ausgebreitet, damit der Vorübergehende seine Professionalität nicht übersehen kann. Die sonntägliche Angelfamilie schließlich. Die angelt fast aus dem Auto, das auf dem Bürgersteig parkt, direkt neben ei ner starkbefahrenen Kreuzung. Die Seine liegt hier etwa fünf Meter tiefer unter dem Kai. Die alte Regel, daß man Fische durch Lärm verscheucht, ist hier gebrochen.

Auch die katholische Kirche pflegt ihre traditionell guten Beziehungen zum Wasser (Petrus, der erste Jünger Christi, war bekanntlich vor seiner Umschulung hauptberuflich Fischer). Die Pfarrgemeinde Notre-Dame-de-Victoire hat auf der Seine ein kastenförmiges Hausboot liegen. Der Priester verneint meine Frage, ob sein Boot eine Erinnerung an die Arche Noah sei. Die Verwaltung samt einer Kapelle befindet sich darin. Er hat Humor: „Wenn die Seine starken Wellengang hat, schaukelt der Altar. Ein Zeichen: Unser Gebet gilt dann als besonders gelungen.“

Ein unübersehbarer Beitrag der Pariser zum Stadtfluß sind die Kanäle, schnurstracks gerade Wasserwege zwischen Häuserzeilen. 1825 wurde der Kanal St. Martin angelegt, um die Stadt mit Trinkwasser zu versorgen. Er ist knapp fünf Kilometer lang und hat neun Schleusen. Noch vor dreißig Jahren waren über 120 Schleusenwärter im Dienst, heute bleiben gerade noch zwanzig.

Es gibt auch kaum etwas zu tun bei einem Verkehrsfluß von täglich drei Schiffen. Und das Öffnen und Schließen der Schleusen funktioniert vollautomatisch.

Am Port d'Arsenal unterhalb der Bastille befindet sich ein Yacht- und Motorboothafen. Der Hafenmeister sitzt in einem towerartigen Glasturm mit Blick über das rechteckige Hafenbecken. Seine optische Kontrolle erleichtern acht Bildschirme. Kein Meter Wasser entgeht ihm.

Der Kanal wurde 1861 streckenweise überdeckt, damit die Kavallerie aus ihren nahegelegenen Kasernen problemlos ausrücken konnte. Erst nach der nächsten Schleuse fließt er wieder oberirdisch. Parallel zum Wasserlauf gibt es hier Bäume und Blumenbeete. „Jedes Frühjahr kommen die Künstler und malen“, berichtete ein alter Schleusenwärter. Die Muße seiner Schleusenarbeit ohne Schiffsverkehr macht ihn erzählerisch. Er hat 1954 in einem Film als Statist mitgespielt, er war die erste Figur des Films - noch im Vorspann -, der damit begann, daß er die Schleuse per Hand öffnete. Er führt die entsprechenden Handbewegungen vor, sie stecken ihm im Blut. Dann lacht er über seine Schwärmerei.

Hier am Kanalufer steht ein besonderer Angler: Er ißt seine Fische. In der Regel werfen die Großstadtjäger ihre gesundheitlich fragwürdige Beute einfach zurück ins Wasser. Er ist ein titi, so nennt man in Paris die Großstadtkids, die selten oder nie aus der Stadt kommen und Natur nur vom Hörensagen kennen.

Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, als er von einer Strömung erzählt, die am Grund des Kanals verläuft. Der Boden wird in Abständen von Tauchern gereinigt. Das letzte Fundstück war ein Koffer mit dem Leichnam einer Frau. Er nickt cool zur Geschichte. Aber man merkt, wie in seiner Phantasie der Kanal sich füllt mit obskuren, geheimnisvollen Dingen und Ereignissen. Vielleicht angelt er mehr nach diesen Gefühlen als nach Fischen. In den Schulferien steht er hier den ganzen Tag.

Nicht nur Kinder haben ein leicht mystisches Verhältnis zu den städtischen Gewässern. Im Hausboot an der Seine wohnt Jakob. Er beobachtet den Fluß. Wir sitzen in der Kajüte, durchs Bullauge sieht man einen Handgriff entfernt die Wasseroberfläche. Jakob führt über ihren Zustand Buch. Seine Aufzeichnungen über das Aussehen, die Farbe und die Strömungsgeschwindigkeit der Wellen bilden die Grundlage für seinen „Beruf“: Er betreibt die Aqua-Mantik, also die Wahrsagekunst mit Wasser. Seine Theorie behauptet einen Zusammenhang zwischen persönlich-psychischen Energien und den Kräften des Wassers. Er stellt quasi den Sternenhimmel des Astrologen auf den Kopf, die besonderen Konstellationen fallen ins Wasser, wo Jakob sie aufliest. - Das Geschäft geht gut. Seine Kundschaft ist die große New-Age-Gemeinde von Paris.

„Brauchwasser“ meint offensichtlich nicht nur den Industriebedarf. Die Seine bedient auch subtilere Wünsche wie den nach postmoderner Lebensdeutung. In diesem Fall gilt: Nicht das Sein, sondern die Seine bestimmt das Bewußtsein.

Zwischen die Seine und das Bewußtsein, das man von ihr hat, schiebt sich eine dritte Kraft: die Kamera.

Am Seinekai dreht die BBC eine Filmszene, zwei Schauspieler -Clochards hocken auf dem Kopfsteinpflaster, zwischen sich die obligatorische Flasche Rotwein, schön unrasiert und harmlos verwegen. Echte Stadtstreicher schlafen schon lange nicht mehr unter den vielgerühmten Brücken von Paris-Mitte (man könnte beim penetranten Geruch des Hundekots ohnehin nur schwer einschlafen). Der Schauspieler soll die Flasche glaubwürdiger an den Mund legen, ordert sein Regisseur. Ein Klischee wird hergestellt und exportiert.

Man stößt in Paris oft auf Filmteams, seine Verwertbarkeit als Kulisse scheint unbegrenzt. So retten sich längst historische Visionen ins 21. Jahrhundert. Bis die Filme gezeigt werden, steht an ihren Drehorten lange eine Tiefgarage oder ein Bürohaus. Die Hektik, mit der die Filmmeter abgedreht werden, ist vielleicht ein Indiz für die berechtigte Angst der Produzenten, ob und wie lange ihre Bühne noch steht.

In kurzer Zeit wird die Seine nicht wiederzuerkennen sein. Großangelegte Bauprojekte geben dem Fluß ein neues Gesicht. Im Osten verschwinden gerade Petit und Grand Bercy, die alten Weinhallen. Hier fand noch in den zwanziger Jahren der gesamte Weinumschlag statt. Der dörflich wirkende Bezirk mit über 400 Bäumen liegt so nahe am Fluß, daß man die Schiffshörner hört. Er war das alkoholische Herzstück der Metropole, man sieht ihm die vergangene Produktivität an. Weinfässer liegen herum, Eisenbahngleise laufen übers Kopfsteinpflaster. Ein Telegraphenmast hält seine Leitung aufrecht, als würden hier wie immer wichtige Gespräche geführt, Geschäfte besiegelt, neue Order ausgegeben. Ein Kulturdenkmal ersten Ranges - zum Abriß freigegeben.

Statt dessen entstehen 60.000 Quadratmeter Bürofläche und 50.000 Quadratmeter Einkaufszentrum - mit Seinepromenade. Der Flußraum wird kapitalisiert. Immerhin: Die Stadt Paris will auch einen neuen Park anlegen. Das wäre tatsächlich ein Gewinn für die (atmende) Öffentlichkeit.

Das Paris der neunziger Jahre rückt wieder enger an seinen Fluß. das verdankt sich der Suche nach Baugrund. Aber die Seine wird auch Bestandteil von Maßnahmen zur sogenannten Stadtverschönerung.

Die prestigeträchtigsten Flußmeter fließen durchs Zentrum. Zwischen Louvre und Notre-Dame legt man derzeit neue Uferwege an, damit sich Besucher nicht nur über, sondern auch an der Seine wohlfühlen.

Der Flußbesucher ist in Paris ein historisches Phänomen. Am Louvre steht die Brücke, die vielleicht den Anfang seiner Geschichte bedeutete: Pont-Neuf, 1606 unter Heinrich IV. fertiggestellt. Sie trägt den ersten hohen Bürgersteig und seitliche Ausbuchtungen mit Sitzbänken, die zum Ausblick einladen. Neuartig war auch der Verzicht auf Brückenhäuser. Weil die Häuser fehlten, konnte der Blick vom Louvre über die Brücke hinweg den Fluß erfassen bis zur Notre-Dame: Die Flußlandschaft wurde zum Panorama. Und allmählich entstand ein völlig neuer Typ von Stadtmensch - der Spaziergänger.

In Ufernähe legte Heinrich IV. (selbst ein großer Spieler) auch die Place Dauphin an auf der Ile de la Cite, der meistbesuchten Insel Frankreichs: zwischen 13 und 14 Uhr in ihrer Mittagspause sieht man hier die hohen Herren des Justizpalastes Boule spielen. Richter, Rechts- und Staatsanwälte wetteifern um den besten Wurf. Es ist schwer auszumachen, ob die Konflikte aus den Gerichtssälen hier weitergeführt oder vergessen werden. Vor allem spürt manSpiellust. Das in der Öffentlichkeit in den Augen einer deutschen Justiz sicher eine apokalyptische Vision.

Eine Seine gibt es nicht. Man bezeichnet zahlreiche Flüsse mit einem Namen. Spielende Richter, museumserschöpfte Touristen, Astrologen, Könige und Stadtstreicher mit Gemüsegärten kennen jede ihre eigene Seine. Man braucht aus dem Fluß keinen Mythos zu machen.

Außerdem lügt er. Zum Beispiel nachts, wenn die Sandschlepper durchs schlafende Paris fahren. Ein Schatten schiebt sich voran. Die einzige Beleuchtung besteht aus den roten und grünen Positionslaternen. Es sieht aus, als würde eine Verkehrsampel schwimmen gehen. - Nachweislich können Verkehrsampeln aber nicht schwimmen. Vielleicht sollte man nicht erwarten, daß ein Fluß, der immerhin durch Paris fließt, nur einfache Wahrheiten verkündet. Die Seine gibt keine Interviews. Aber ihr Gespräch mit Paris reißt nicht ab.