Trotz der Westhilfe fehlen Milliarden

■ Der neue DDR-Haushalt ist gespickt mit Risiken / Regierung muß mit Zahlungsunfähigkeit rechnen

Aus Berlin Johann Legner

„Am Geld soll es nicht scheitern, hieß es früher immer“, sagen die Mitarbeiter des DDR-Finanzministeriums. Es fehlte an vielem in der alten Mangelwirtschaft - aber Geld war immer genug in der Staatskasse, auch wenn damit nichts zu bezahlen war.

Mit der Einführung der D-Mark hat auch für die öffentlichen Finanzen der Noch-Republik die Stunde der Wahrheit geschlagen. Was am Sonntag als Haushaltsplan für das zweite Halbjahr 1990 in der Volkskammer verabschiedet wurde, ist für alle Beteiligten eine bittere Offenbarung der tiefen Krise, in der das Land steckt.

Die DDR kann danach noch nicht einmal die Hälfte ihrer dringendsten Ausgaben selbst finanzieren. Aber auch die 33 Milliarden, die aus dem Westen in den Etat fließen, haben nicht ausgereicht, um alle vorgesehenen Maßnahmen zu bezahlen. Noch immer sind von den 64,1 Milliarden über drei Milliarden im Haushalt ohne Deckung und müssen durch weitere Einsparungen ausgeglichen werden. Einen „Haushalt mit vielen Ungesichertheiten“ nannte Finanzminister Walter Romberg die Vorlage aus seinem Haus. Romberg weiß, daß er in wenigen Wochen das gesamte Zahlenwerk wird umschreiben müssen. Selbst unabdingbare, gesetzliche oder vertraglich vorgeschriebene Ausgaben konnten nicht in der gebotenen Höhe abgesichert werden.

So geht der Ansatz zur Anschubfinanzierung der Arbeitslosenversicherung beispielsweise von durchschnittlich 400.000 Arbeitslosen aus. Bereits jetzt aber sind etwa 250.000 Entlassene registriert und die Zahl steigt von Woche zu Woche rapide an. Daß die DDR bis zum Jahresende die Arbeitslosenquote auf auch für bundesrepublikanische Verhältnisse hervorragende fünf Prozent begrenzen kann, glaubt längst keiner mehr. Aber jeder zusätzlich Entlassene verursacht nicht nur höhere Kosten, sondern fehlt auch als Beitragszahler. Weitere Milliarden DM werden benötigt werden, um das Defizit der Versicherung auszugleichen.

Zusätzliches Geld wird auch gebraucht, um die Handelsverpflichtungen gegenüber den RGW-Staaten zu erfüllen. Denn die Betriebe liefern nicht mehr zu den ausgehandelten niedrigen Preisen, der Staat ist zu umfangreichen Subventionen gezwungen. Und die Importe aus den osteuropäischen Staaten müssen durch staatliche Stützungen auf Weltmarktniveau verbilligt werden. Zwei Milliarden DM waren dafür im Haushalt vorgesehen, aber bis zum Ende des Jahres könnte die doppelte Summe benötigt werden. Der Zwang zu rigoroser Sparsamkeit führte schließlich dazu, daß die Städte und Gemeinden, die mangels eigener Einnahmen auf Geldzuweisungen aus der Zentrale angewiesen sind, im besten Falle noch die laufenden Ausgaben, keinesfalls aber größere Neuinvestitionen bezahlen können. Der öffentliche Wohnungsbau könnte deswegen weitgehend zum Erliegen kommen. Zusätzliche Mittel werden nötig sein, die 600 Millionen aus dem Feuerwehrfonds des Bauministeriums reichen nicht aus.

Für die Organisation der im Oktober stattfindenden Landtagswahlen sind zwar noch 41 Millionen DM vorgesehen. Womit aber die fünf neu zu bildenden Landtage und der Aufbau der Landesregierungen bezahlt werden soll, weiß derzeit keiner.

Anstatt der geplanten 225 Millionen DM für Maßnahmen des Umweltschutzes entschieden sich die Abgeordneten für mehr als das Doppelte. Jedoch sind 498 Millionen DM angesichts der Umweltprobleme immer noch ein lächerlicher Betrag. Für die staatlichen Kultureinrichtungen mit ihren fast 10.000 Beschäftigten bleiben gerade 109 Millionen DM.

Über 500.000 Berufstätige arbeiten in Behörden und anderen Einrichtungen der Regierung. Ihre Zahl soll radikal verringert werden. Deswegen liegt den Berechnungen des Haushalts ein absoluter Einstellungsstopp zugrunde. Während in der privaten Wirtschaft zum Ausgleich der Teuerung überall die Löhne und Gehälter erhöht wurden, fehlt im öffentlichen Dienst das Geld.

Völlig ungeklärt ist schließlich, ob die vorgesehenen Einnahmen zu erzielen sind. Fast 25 Milliarden DM sind an Steuern im Plan vorgesehen. Aber mit jeder Einkaufsfahrt von DDR-Bürgern nach Berlin oder in die grenznahe Bundesrepublik verringern sich die Verbrauchssteuereinnahmen. Und die Lohn und Einkommenssteuer wird nur dann in der vorgesehenen Höhe bezahlt werden, wenn die Arbeitslosigkeit wider Erwarten langsam ansteigt.

Da eine funktionierende Finanzverwaltung derzeit noch fehlt, sorgen nur die Kredite aus dem Westen dafür, daß noch bares Geld in der Kasse der öffentlichen Haushalte ist. Es müsse, so war aus dem Finanzministerium zu hören, jederzeit mit einer vorübergehenden Zahlungsunfähigkeit der Regierung gerechnet werden. Bei den Parlamentsdebatten zu diesem risikobehafteten „Übergangshaushalt“ wurde offenkundig, daß die meisten Abgeordneten von der Vorlage schlicht überfordert waren. Kaum einer hatte jemals zuvor einen vergleichbaren Haushaltsplan gesehen. Jedoch an einem Punkt, das muß man zur Ehrenrettung der Abgeordneten sagen, griffen diese massiv ein: Die Höhe des Verteidigungsetats wurde um 670 Millionen gesenkt.

Den Steuerzahlern im Westen die ganze Wahrheit über den Zustand der bald gesamtdeutsch gerechneten öffentlichen Finanzen zu offenbaren, wird man mit Sicherheit bis zu den Wahlen im Dezember zu vermeiden versuchen. So ist bislang aus Bonn auch kein Wort darüber verlautet, daß - wie aus dem DDR-Haushalt unschwer zu entnehmen ist - noch fast 35 Milliarden DM als Altschulden der DDR zu tilgen sind. Um diese Summe wird sich zwangläufig die Nettokreditaufnahme des Bundes im nächsten Jahr erhöhen. Ein Unsicherheitsfaktor für Verschleierungsstrategien bleiben jedoch die derzeit noch in die Koalition eingebundenen Sozialdemokraten der DDR. Sie stellen mit Walter Romberg den Finanzminister. Wer sich umhört in seinem Hause, wird unschwer feststellen, daß Oskar Lafontaine mit seinen Mahnungen dort auf offene Ohren stößt.