piwik no script img

Fluchtpunkt Hofquelle

■ Das „Berliner Saxophon Quartett“ bei den Hofkonzerten

Einem Rockspektakel der Desaster-Kategorie zu entkommen, war am Samstag abend die nicht eben leicht zu erledigende Kulturaufgabe. War man doch schon in der Nacht zuvor von streß- und staugeplagten mauergeilen Reisechaoten, die knapp fünfzehn Stunden vom Ruhrgebiet bis zur Reichskanzlei gebraucht hatten, wobei ein vorderes Fahrzeug ihres Konvois Totalschaden wegen Auffahrens erlitt, aus dem Schlaf gerissen worden. Es wurde ihnen großzügig Unterschlupf gewährt, der günstigste Weg zum Epizentrum des Stoßgebets gewiesen und ein Telefonanruf ermöglicht, den sie nutzten, um ihre verunfallten Kumpane darauf hinzuweisen, daß diese doch wohl schuldhaft den Stau bei Neubeckum verursacht hätten. Jene hatten ihre Anreise im Mietwagen fortgesetzt (Wir empfehlen Antrag beim Desasterfonds).

Um nicht auch zu den Nutznießern der selbsterzeugten Katastrophe des Katastrophenfonds zu gehören, machte ich mich, das Gebiet „weiträumig umfahrend“, auf, das Gelände der Schultheiss-Brauerei am Kreuzberg zu erklimmen.

In deren Schmiedehof residiert nun schon im zweiten Sommer die Hofkonzert-Reihe. Als Nachgeburt der „Stadtmusik“ des Jahres E88 veranstaltet man hier sowie im Ostberliner Prater und einem dortigen benachbarten Hinterhof Konzerte zwischen Jazz und Klassik. Wenn auch im Osten nach Auskunft der Veranstalter kaum DDR-Publikum auftaucht, kann man sich jedoch bei den Wochenendkonzerten im historischen Brauereihof auf sein angestammtes Fußvolk verlassen. Der Hof mit den roten Backsteingebäuden der „Stellmacher“ und „Zimmerer“ wird zum improvisierten Straßencafe, an dessen Tischen einem sogar das direkt von der Quelle in's Glas sprudelnde Bier wieder schmeckt, das sonst nur noch als Schimpfwort für eine bestimmte Sorte Berliner taugt.

Auf dem kleinen Podium unterm schmiedeeisernen Glasdach der Stellmacher steht an diesem Abend das „Berliner Saxophon Quartett“. Die vier Herren widmen sich zunächst Werken der Spätromantik von Jiri Pauers „Slepici Serenada“ bis zu Gabriel Piernes „Introduction et Variations sur une Ronde populaire.“ „Au weia, Klassik“, rumort es in mir, bis Spielfreude und -witz der Profis an den Saxophonen schnell die Zweifel vertreiben. Detlef Bensmann, Christof Griese, Klaus Kreszmarsky und Friedemann Graef pusten den Klassikern den Staub von den Noten, lassen sich nicht von deren vermeintlicher Schwere in den Baritonsumpf ziehen. Wie beim Drahtseilakt, mit einem Fuß schon in der Tiefe, balancieren die vier Artisten zwischen den Genres Klassik, Jazz und Neue Musik. Nach einer Verschnauf- und Trinkpause beginnt das Quartett mit einer Eigenkomposition des Baritonsaxophonisten Friedemann Graef. „ROndO“, ein Stück, in dem die Hörner besonders voluminös zu klingen scheinen und mit Leichtigkeit die Distanz zum „Flaschenkeller“ überwunden wird. Die günstige Akustik des Hofes besiegt den Wind, der immer wieder die Noten der Musiker durchwirbelt und diese zu zum Teil unfreiwilligen Improvisationen zwingt.

Dann folgt noch „Devil's Rain“ von Thomas Albert, eine minimalistische Komposition, die frappant an Steve Reich erinnert, obwohl sie, aus eigentlich überflüssiger Rücksicht auf das Publikum schon von 30 auf 10 Minuten gekürzt wurde. Auch die hätte meinetwegen ruhig eine volle Stunde dauern dürfen. So schloß man viel zu früh mit einem Duke Ellington Mix, potpourrimäßig zusammengerührt von Niko Schäuble. Auch eine Zugabe, erklatscht vom sichtlich angetanen Brauereipublikum, bewahrte nicht vor der klanglichen Dunstglocke, die immer noch über dem Kreuzberg hing. Fluchtmöglichkeiten noch bis Anfang September an jedem Wochenende bei den Hofkonzerten.

Andreas Becker

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen