Sechs erzählen eine Geschichte

■ „Der Wundertäter war von hohem Wuchs“ im Kroll Theater

Tatsächlich könnte dies der erste Satz einer genialen Erzählung sein: „Der Wundertäter war von hohem Wuchs.“ Jedoch da klopft es an der Tür, herein tritt eine häßliche Alte, und bevor noch der Schreiber dieses Satzes ihr einen Stuhl anbieten könnte, sitzt sie schon in seinem Lieblingssessel, um kurz darauf in diesem zu verscheiden. An Schreiben ist nicht mehr zu denken, vielmehr stellt sich die Frage: Was tun? Dazu kommt noch ein grauenhafter Hunger, der klares Denken nicht zuläßt. Der Schreiber zählt sein Geld und flieht zum Einkaufen, nicht ohne Hoffnung, die Alte könne bei seiner Rückkehr verschwunden sein, denn schließlich könnte alles ja einfach ein Traum sein. Doch während er noch beim Schlangestehn vorm Bäckerladen mit einer „netten kleinen Dame“ anbändelt, weiß er, daß er sie nicht zu einer Flasche Wodka in seinem Zimmer wird verführen können, da er ja schon eine andere auf seinem Zimmer hat. Verbittert über dieses Mißgeschick leert er den Wodka zu kaltem Suppenfleisch bei seinem Freund, während man sich gegenseitig mit Existenzfragen über Gott und Tod zusetzt.

Die Toten sind das größte Elend, das ist klar, kriechen sie doch tückisch aus ihren Gräbern, fressen Leichentücher und blutvergiften ahnungslose Friedhofswärter durch Bisse in die Waden. Nein, er wird sein Genie nicht pflegen können in Gestalt des Wundertäters, der sich durch das völlige Nichtwirken von Wundern auszeichnete; er weiß, will er nicht in größere Bedrängnis geraten, muß er schleunigst die Alte aus seinem Zimmer entfernen. Er geht nach Hause und packt einen Koffer... Den Rest dieser für den Leningrader Dichter Daniil Charms (1905-1941) so typischen Geschichte (Originaltitel der Erzählung: Die alte Frau) lasse man sich besser vom Walser Ensemble erzählen, das die Charmsgeschichte mit großer Liebe zu kleinen Details und großer Sorgfalt der Regie in Szene gesetzt hat, indem es diese Geschichte, die schon aus so vielen Geschichten besteht, in eine weitere eingewickelt hat: Drei Personen sitzen an einem langen hölzernen Tisch, in einem schummrig kerzenbeleuchteten Raum, mit frischen Würstchen an einer langen Leine und guten Getränken auf dem Tisch. Man hat gut gegessen, es ist Zeit für Geschichten. Und die ErzählerInnen lassen sich viel Zeit.

Langsam erst kommen sie in Gang, beginnen sich gegenseitig und miteinander die Geschichte zu erzählen, in deren Verlauf zwar jedem von ihnen gewisse Rollen zugeteilt werden, zugleich aber jeder auch Teil der Rolle des anderen ist, denn alle sind „der Erzähler“ und Teil der Geschichte, die sie erzählen. Gespielt wird hier sozusagen mit doppeltem Boden, das schöne Speisezimmer hat einen Keller (wie alle Geschichten von Charms!), in dem nicht nur wunderbare Speisen (das kann man riechen!) zubereitet werden, sondern aus dem zu gegebenem Anlaß und zu gegebener Stunde neue und obskure Gestalten aus der Falltür nach oben geklettert kommen und andere von oben nach unten steigen. So agieren schließlich sechs Personen in wechselnden Folgen und Kombinationen im Erdgeschoß und Keller oder im ersten Stock (auf dem Tisch), deren Stimmen das Publikum mal ganz nah von Angesicht zu Angesicht vernimmt, mal von tief unten aus weiter Ferne. Sie teilen die Geschichte durch ihr Spiel in viele kleine, sorgfältig strukturierte Einzelszenen, die aber den Fluß der Erzählung an keiner Stelle unterbrechen, sondern Akzente und Schwerpunkte setzen.

Was hier geschieht, ist nicht die Inszenierung einer Erzählung, sondern inszeniertes Erzählen. Keine lebenden Toten also auf der Bühne, keine häßlichen Alten, sondern sechs unglückselige Erzähler derselben Geschichte, deren Bilder im Kopf des Publikums entstehen, während man die Darsteller beim lauten „Lesen“ beobachtet. Die Regie hat das vorhandene Material genau bearbeitet und organisiert. Wo dialogisches Material vorhanden ist, wird es szenisch genutzt, wo die Geschichte sich in Traum und Grenzbereiche begibt, werden andere Formen der Inszenierung entwickelt, Bilder, Geräusche, Singen, kleine Tänzchen. Bewegungen und Gestus der Darsteller sind, der Begrenztheit des Raumes entsprechend, klein und sparsam, aber dafür immer sehr deutlich ausgeführt und in ihrer exakten Ausführung manchmal sogar virtuos.

Gelungen wie das Bühnenbild sind übrigens auch die vielleicht ein wenig russophilen Kostüme, die langen Filzmäntel, -stiefel, Beamtinnenkostümchen mit Filzschiffchen, Iwankappen und die herrliche Abendrobe der Herrschaften zu Tisch. Alles gekonnt am Klischee vorbeigeschneidert, dennoch für den Monat Juli sehr winterlich. Eine Inszenierung also, von der man hoffen möchte, daß man sie im Dezember nach einem schweren, sättigenden Abendessen noch einmal sehen kann. In diesem gediegenen Sinne allerdings ist sie fast zu schön, um Charms zu sein.

Felicitas Hoppe

„Der Wundertäter war von hohem Wuchs“ nach der Erzählung: „Die alte Frau“ von Daniil Charms. Kroll Theater, Merseburger Straße, 1-62, Telefon 781 55 04. Noch bis 6. August jeweils Fr.-Mo. um 21 Uhr.