: Realexistierender Schrottplatz
■ Jiri Menzels tschechischer Spielfilm „Lerchen am Faden“, ARD, um 23 Uhr
Die tschechische Redewendung „Lerchen am Faden“ bezeichnet unliebsame oder auffällig gewordene bourgoise Elemente der Gesellschaft, die durch Zwangsarbeit umerzogen werden sollen. Jiri Menzels gleichnamiger Film, 1969 nach einer Erzählung von Bohumil Hrabal im Zuge der Auferstehung des Kinos während des Prager Frühlings entstanden, ist eine ironische und feinsinnige Abrechnung mit diesen Praktiken. Die Fertigstellung des Films fiel jedoch in die Zeit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, so daß die filmische Darstellung des gerade überwundenen Zustandes wieder Realität geworden war.
Da man Zelluloid nicht umerziehen kann, verschwand der Film sofort in den Giftschränken. Nicht verhindert werden konnte jedoch die Zirkulation einiger Raubkopien, wie Menzel auf der diesjährigen Berlinale berichtete, wo seinem Film die um zwanzig Jahre verspätete Ehre des Goldenen Bären zuteil wurde.
Der Film beginnt mit einem langsamen Schwenk über die bizarr-zerklüfteten Formen eines Schrottplatzes und verharrt über einer Gruppe von Arbeitern. Ein Vorarbeiter erscheint, der sich als einziger nicht die Finger schmutzig macht, weil er vorher selbst Arbeiter war. Er erläutert einem auf dem Gelände erschienenen Propagandafilmer die Absicht.
Menschen und Metall, farblich schon zu einer Einheit verschmolzen, sollen zum Aufbau des Sozialismus in Edelstahl umgeschmolzen werden. Umgeschmolzen werden soll die Intellektualität des Philosophieprofessors, die Bürgerlichkeit des Staatsanwaltes, die Individualität des Milchmannes, die Dekadenz des Friseurs etc. Nicht zufällig müssen sie Berge alter Schreibmaschinen und Kruzifixe verladen.
Verladen wird jedoch auch der übereifrige Aufseher, der den mehrdeutigen, spöttelnden Dialogen der Schrottphilosophen mit hilfloser Geste beiwohnt. Um die Umerziehung auch in seiner Freizeit voranzutreiben, hat er eine Zigeunerin geheiratet, sieht sich jedoch zunehmend vor unlösbare Aufgaben gestellt, als diese statt im Ehebett auf dem Kleiderschrank nächtigt und im Badezimmer kultische Rituale abhält. Langsam wachsende Einsicht stimmt ihn milder. Er läßt die Männer mit den ebenfalls stationierten republikflüchtigen Frauen schon mal zum Händewärmen zusammenrücken.
Der Schrottplatz als Metapher für den Machtapparat des realexistierenden Sozialismus wird nicht überstrapaziert, sondern als Bühne für ein absurdes Theaterstück stilisiert. Als der Philosophieprofessor von der Unerschütterlichkeit des „moralischen Gesetzes“ bei Kant spricht, fällt er in eine Grube. Der Milchmann, der während der arrangierten Dreharbeiten eine freche Bemerkung macht, taucht einfach nicht mehr auf; als stünde in der Regieanweisung: „ab“. Weil sich der Philosophieprofessor später nach ihm erkundigt, verschwindet auch er. Und so weiter.
Menzels Film ist eine listige, in leisen Tönen inszenierte Tragikomödie. Die gnadenlose Entwürdigung des Menschen bricht nur an einer Stelle durch wie ein Fanal. Beim verbotenen Geschlechtsakt unter einem Bretterzaun überrascht, rennt ein im Lichtkegel gefangener Arbeiter davon, ohne sich noch die Hose heraufziehen zu können.
Manfred Riepe
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