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Vom Umgang mit einem notwendigen Übel

■ Fünf Klarstellungen zum Mythos um das Kondom / Können die zahllosen Untersuchungen von zahlreichen Hochsicherheitsexperten die nagenden Zweifel an der Zuverlässigkeit der zweiten Haut zerstreuen? / DIN-Entwurf58993: Dem einstmals Unaussprechlichen droht jetzt auch noch die Vermessung

Von Ejo Eckerle

Am Anfang war alles noch geil. Das erste Kondom meines Lebens war hauchdünn und staubtrocken. Sanssouci stand auf der blaßgelben Pappschachtel, die mit roten Ohren zum Preis von einer Mark aus dem Automaten gezogen wurde.

Sanssouci - ohne Sorgen. Die Nöte waren damals andere als heute. Kein Virus in Sicht, nur die bange Frage, ob es nicht an der Zeit sei, jemand (weiblich!) zu finden, der es mit einem mache. Pubertärer Leistungsdruck putschte hochkantig in den Adern des 14jährigen. Das Kondom war sichtbares Signal dafür, daß jetzt Schluß sein sollte mit den Faxen. Der Moment des Überstreifens hatte etwas von einem Ritual. Das Ende der Kindheit stand an, und der Jungmann begann sich eine neue Haut zuzulegen. Dennoch machte die Aktion keinen Sinn. Niemand weit und breit, bei dem der Nahkampfeinsatz von Freund Sanssouci wirklich Sinn gemacht hätte...

Viele Jahre später stand die Wiederbegegnung an. Die Zeiten wurden härter, die Partner Männer, in Fromms Namen, her mit dem Teil, vergebliche Abrollversuche, bei denen nichts funktionierte, außer, daß alles zusammenklappte: von wegen Lust in Tüten. Es ist an der Zeit, mit den Lügen und Mythen aufzuräumen, die sich seit seiner Erfindung Ende des 19.Jahrhunderts um das Latexprodukt gerankt haben.

Sicher, es klingt lustig, wenn Detlev Meyer dichtet: „In keinem Bett spielt man Roulette / Sorglos ist das Lustgekicher / Männer gehen auf Nummer Sicher.“ Es gehört aber zum großen Selbstbetrug ums Kondom, das uns ständig der schönfärberische Chor der Präventionsstrategen einredet, wie schweinegeil im Grund doch alles sei, unterstützt vom weißkitteligen Experten, der meint, 0,05 bis 0,035 Millimeter Latex zwischen dir und mir seien doch gar nicht in der Lage, unser körperliches Glück zu beeinträchtigen. Es ist mehr als ein Stück Gummi, eine zweite Haut, die uns in den Griff nimmt.

Leugnen ist sinnlos: Der Spaß hat seine Grenzen. Die Safer -Sex-Workshops im Lande füllen sich mit Männern, denen der Überdruß ins Gesicht geschrieben steht, ältere mehr als junge, die das untergegangene Lust-Atlantis nur noch vom Hörensagen kennen. „Kommen wir zur Erst anschnallen, dann starten-Variante...“, trompetet uns fröhlich ein Faltblatt der Deutschen Aidshilfe entgegen - und verschweigt diskret, daß genau da im Grunde das Problem liegt.

„Erinnert permanent an einen möglichen Unfall“

Was für den Sicherheitsgurt gilt, kann ohne weiteres auch auf das Latexprodukt übertragen werden: „Die Störung drückt sich darin aus, daß der Gurt zwar als technische Einrichtung anerkannt wird, die den Insassen vor Unfallfolgen schützt, diese Schutzfunktion jedoch nicht erlebt wird, sondern der Gurt ein Angstsymbol darstellt. Mit dem Sicherheitsgurt werden primär die Gefahren des Straßenverkehrs assoziiert, erst sekundär seine eigentlichen technischen Funktionen. Er ist latent mit Unfallängsten verknüpft, da er permanent an die Gefahren eines möglichen Unfalls erinnert.“ (Aus: P. Vieth, Die Durchsetzung des Sicherheitsgurtes beim Autofahren, Berlin 1988, Wissenschaftszentrum).

Und wer das nicht will, oder es einfach nicht mehr erträgt, hat im Grunde zwei Möglichkeiten zu reagieren: Er läßt das, wozu ein Gummi nötig ist, oder er tut weiter so als ob, wird einer von jenen angeblich böswilligen Hasardeuren, die derzeit das Praunheimsche Strafgericht trifft.

Werner Scherm, Mitarbeiter der Münchner Aids-Hilfe, kennt mehr solche Männer, die sich im Laufe der Zeit aufs „kleine Programm“ beschränken, im wachsenden Maße auch solche, die gerne mal den großen Drachen steigen lassen, um hinterher um so tiefer abzustürzen: Nagende Ungewißheit, ob denn nun wirklich alles so sicher gewesen war.

Die Schriftstellerin Jeanne Parisot will uns beruhigen: „Die Chance, sich eines Tages Auge in Auge mit einem schadhaften Pariser zu befinden, ist größer als die, sechs Richtige im Lotto zu haben. Einerseits. Die Chance, einem defekten Pariser zu begegnen, ist geringer als die, daß ein Atomkraftwerk hochgeht. Andererseits.“

Lüge Nummer zwei: der Pearl-Index. Er definiert die Anzahl der Schwangerschaften pro hundert Anwendungsjahre. In älteren Studien finden sich abweichende Angaben, jedenfalls würden zwischen 0,8 und 4,8 Kondomanwenderinnen pro Jahr schwanger. Da haben wir's, die Versagerquote, sprach der Hobby-Epidemologe Peter G. aus M., hauptberuflich regierender Staatssekretär im Land hinter den sieben Bergen, und berichtete seinen staunenden Amtsbrüdern in fröhlicher Kabinettsrunde, unter Umständen könnten schon mal zwei Überzieher der Macht der Leidenschaft nicht standhalten.

„Versagerquote im Prostitutionsgewerbe“

Jenseits jener pathologischen Angstphantasien liegt die Realität. Ein gravierender Mangel der Pearl-Untersuchung besteht jedoch darin, daß ihr lediglich Interviews zugrunde liegen. Und da kommt ein folgenschwerer Verdacht auf: Die Leute vergessen das Kondom, und später, im Interview vergessen sie, daß sie es vergessen haben.

Menschliche Verdrängung und wie sie funktioniert. Also Vorsicht - werfen wir lieber einen Blick an die Front. Im Zusammenhang mit Aids berichtete ein australisches Forscherteam in der britischen Ärztefachzeitschrift 'Lancet‘ im Dezember 1988 erstmals über eine Studie zum Thema „Versagerquote im Prostitutionsgewerbe“. In der Analyse wurden vier weibliche Prostituierte und dreißig Stricher in den drei Puffs von Sydney untersucht.

Das Ergebnis: Von 644 bei Analverkehr benützten Präservativen rissen drei (0,5 Prozent). In zwei dieser Fälle war der Schwanz vorher mit mineralischem Öl, dem klassischen Gummikiller schlechthin, einmassiert worden. Beim Vaginalverkehr lag die Bruchquote erstaunlicherweise noch etwas höher: Von 605 beim Vaginalverkehr benützten Präservativen platzten fünf (0,8 Prozent). In drei dieser fünf Fälle wurde kein Gleitmittel verwendet. Zwei Präservative wurden durch die Fingernägel des Freiers beschädigt.

Die Autoren ziehen ihr Resümee: „Es zeigt sich, daß die bemerkenswert niedrige Versagerquote in dieser speziellen Umgebung bedeutet, daß Präservative für Prostituierte und ihre Kunden einen sehr hohen Schutz vor HIV-Infektionen und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten bieten.“ Aber es heißt dort auch, kommerzieller Sex dauere selten lange, deshalb werden das Präservative auch weniger belastet.

Unsere Hochsicherheitsexperten kriegen sich angesichts solcher Ergebnisse gar nicht mehr ein und beginnen mit haarspalterischen Diskussionen ums Zubehör: Achte aufs Gleitmittel, Junge! Wir wissen natürlich längst, daß wir mit dem amerikanischen Bratfett nur noch unser Schnitzel braten sollen. Aber daß wir jetzt auch noch auf Nonoxinol 9 achten sollen, will uns nicht in den Kopf.

Ich traf mal jemanden, der schwor auf Säfte, die dieses Spermizid enthalten und rieb sich damit die Hände ein, bevor er den Schwanz seines Nächsten in die Hände nahm...sicher, sicher! Gewiß ist aber nur, daß Nonoxinol 9 in vitro, das heißt im Reagenzglas, neben anderen Viren auch das HIV abtötet, ob es vor Ort, im Enddarm, zusätzlichen Schutz bei einem Kondomversager bietet, weiß kein Mensch.

Der Hülle

unserer Leidenschaft

zu Leibe rücken

Der Hülle für unsere Leidenschaft wird, je mehr wir uns ihrer Problematik bewußt werden, mit höchstmöglicher Seriosität zu Leibe gerückt. Das in Berlin ansässige DIN -Institut plant das DIN-Kondom. In einem Land, in dem selbst Form und Größen von Gullideckeln vorgeschrieben sind, dreht auch dem einstmals Unaussprechlichen die Vermessung.

Der DIN-Entwurf58993 sieht nicht nur eine verschärfte Betriebshygiene der Produktionsstätten vor, sondern legt auch einheitliche Prüfverfahren für Kondome fest. Von jeder Charge, das sind 210.600 Stück, sollen künftig 400 Kondome auf Materialeigenschaften wie Elastizität, Druckwiderstand und Dichte vom Hersteller selbst überprüft werden. Liegt der Anteil fehlerhafter Kondome bei maximal einem Prozent, wird die Charge akzeptiert. Alles nur, damit wir uns sorglos in unserem Gummi kuscheln können.

Lüge Nummer drei. Die neue Vorschrift nützt vor allem der herstellenden Industrie, die sich immer noch gegen Konkurrenzdruck aus dem Ausland zur Wehr setzen muß. Die Prüfvorschriften werden nicht sonderlich schärfer, sondern nur per Gesetz allgemeingültig. Denn der Markt ist eng. Fünf von 16 Kondomhersteller teilen ihn sich zu 80 Prozent. Zuwachsraten zwischen fünf und zehn Prozent im Umsatz sind inzwischen wieder Realität, wehmütig blicken die Hersteller aufs Rekordjahr 1987 zurück, als sie statt 96 Millionen Stück 150 Millionen Gummis absetzen konnten.

Hamsterkäufe von Großhändlern und Neulingen, die schnelle Kohle witterten, waren für den Absatzboom verantwortlich, womit wir bei Lüge Nummer vier wären: Kondome seien zur Zeit das große Geschäft. Dachten sich die Latexproduzenten auch, und erwarben in aller Welt neue Produktionsstandorte, etwa in Thailand oder Barcelona.

Schock! Das deutsche Kondom ausgestattet mit Brief („Die Einsiegelung vorsichtig an der Einkerbung aufreißen...“) und Siegel (“...nach den hohen Anforderungen der RAL -Gütebestimmungen der Deutschen Latex Forschungs- und Entwicklungsgemeinschaft hergestellt...“), dem dlf -Gütezeichen, ist am Ende gar keines. Schon wieder eine Irreführung!

Und was man nun von fernöstlichem Ramsch zu halten hat, zeigt uns jede 50-Mark-Jeans von C&A. Doch Herr Seifert von MAPA in Zeven zerstreut unsere Bedenken. Das Unternehmen streut seine Produkte unter den Namen Blausiegel, Fromms und Billy Boys unters vögelnde Volk. Schon jetzt liegt ja die Dehnung bei 650 Prozent, die ein Gummi ertragen muß, die DIN-Norm wird schließlich das Berstvolumen von derzeit 20 Liter auf 35 bis 40 Liter anheben. Und außerdem: Jedes Gummi aus fremden Ländern wird bei uns noch einmal geprüft, benetzt oder gepudert und sachgerecht eingerollt und eingetütet.

Der DDR-Markt

ist schon ausgeguckt

Wie so oft in diesen Tagen wittern wir die große Chancen im Osten. Oder was ist wohl der Grund, warum MAPA derzeit im Vierschichtbetrieb seine teuren Spezialmaschinen laufen läßt? „Ab dem 1.Juli läuft die Ware rüber“, vermeldet Marketing-Mann Sempert. Für einen Zwanzig-Prozent -Umsatzzuwachs sei der DDR-Markt schon gut.

Eine andere Chance wäre, wenn die Kondomfabrikanten endlich dazu übergingen, ihre schamhafte Zurückhaltung in Punkto Werbung aufzugeben. Mancher Hersteller ist immer noch auf dem „Familienplanungs„-Trip der 70er Jahre. MAPA verweist dagegen stolz auf seine neueste Anzeige: „Fromms zieht den Mann an“, erschienen im 'Stern‘ und einigen bundesdeutschen Stadtblättern. Ein junger nackter männlicher Mensch, so rein wie Milch und Honig, blickt uns fragend entgegen. Die Assoziation, es hier mit Reklame für ein Herrenparfüm zu tun zu haben, kommt nicht von ungefähr. So sauber kann Sex auch heute noch sein, oder was soll sich der Betrachter dabei denken? Der Weisheit letzter Schluß ist diese Kampagne nicht.

Und noch eine frohe Kunde hat MAPA: Die bunten Edelpariser bekommen demnächst das begehrte dlf-Zeichen. Vor allem in den überall im Land erblühenden Kondomerien sind Scherzbeutel der große Renner. Himbeer, Banane, Pfirsich, Passionsfrucht und Pfefferminze sollen uns Geschmack auf den Gummisex machen. „Spielereien“, meint Safer-Sex-Workshop -Leiter Werner Scherm zum Juxgummi.

Die Probleme liegen woanders: „Beziehen sie doch das Kondom ins Liebesspiel mit ein“, ist ein oft gehörter frommer Rat. Ein Plakat der Aidshilfe macht uns vor, daß es angeblich auch ginge, sich mit dem Mund den Gummi vom Gegenüber anpassen zu lassen. Schon einmal probiert? Wer im Bett unbedingt zur lächerlichen Figur werden will, bitte, gelungener ist da schon „Bumsen, aber sicher“, jenes Faltblatt mit Zeichnungen von Heinrich Salmon, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Nach Auskunft der Aidshilfen-Streetworker übrigens der Renner - kaum ausgelegt, schon vergriffen.

Wie die Pestfahne

im Mittelalter

Die Psychologen Robert Rohner und Andrea Böhm bringen den Ernstfall ihrer Untersuchung „Der Gebrauch des Kondoms - vom Umgang mit einem notwendigen Übel“ auf den Punkt: „Der Griff zum Kondom (zuerst das Kramen in der Nachttischschublade, das Auspacken des Gummis, Weglegen der Verpackung und Anlegen) ist eine sehr prosaische Angelegenheit an einem Ding und nicht mehr am eigenen Körper...“ Und weiter: „Zum Anlegen des Kondoms muß der Mann die Aufmerksamkeit sich selbst zuwenden, genauer: seiner Erektion. Diese muß er als ausreichend eingeschätzt haben, damit das Kondom überhaupt übergezogen werden kann. Männer mit Angst vor Erektionsverlust mögen an dieser Stelle ängstlich reagieren oder eine ängstliche Reaktion antizipieren (vorwegnehmen). Da die Angst gegenüber der sexuellen Reaktion antagonistisch ist, kann die Erektion nachlassen und ein Anlegen des Kondoms unmöglich werden.“ Das Kondom ist das Signal - wie die Pestfahne, die die Kapitäne des Mittelalters aus Angst vor Piraten hissen ließen.

Spätestens an dieser Stelle mischen sich in der Phantasie von Lust und Leidenschaft die Bilder von Tod und Siechtum. Gelernt haben wir Sexualität ganz anders. „Dieser Ideologie der Leidenschaft und Selbstvergessenheit einschließlich eines geforderten Kontrollverlustes steht die Forderung nach Selbstkontrolle als Voraussetzung für einen zuverlässigen Kondomgebrauch gegenüber. Diese Selbstkontrolle kann einen psychischen Konflikt auslösen, weil damit das Ideal einer leidenschaftlichen und von spontanen Eingebungen bestimmten Sexualität zumindest für eine kurze Zeit aufgegeben werden muß“, schlußfolgern die beiden Berliner Psychologen. Herzlichen Glückwunsch.

Est wenn der Griff zur Tüte so selbstverständlich wird wie im Supermarkt, kann diese Hürde übersprungen werden, doch der Weg dahin ist weit. Da hilft nur üben, reden, reflektieren. Die große, große Chance zum Safer Sex. Wir reden wieder miteinander, und das ist toll.

Lüge Nummer fünf. Mancher ist froh daß ihm das Kondom im Gegenteil das Reden erspart. Keine Debatte darüber, wer jetzt wen fickt und ob überhaupt - der Gummi wird ausgepackt, wer jetzt was macht, ist deutlich zu sehen. Schwierig wird's erst, wenn aus der schnellen Nummer am Ende eine Beziehungskiste wurde und der Wunsch nach innigster Verbindung wächst (ohne Kondom). Dann müssen wir plötzlich reden, über den Test und was ist, wenn wir das Ergebnis voneinander kennen...

Je länger eine Beziehung dauert, um so näher rückt die Gretchenfrage. Archaische Seelengründe stellen uns die Falle. Zum männlichen Erleben von Potenz gehört auch die Vorstellung, Kübel von Sperma zu verströmen - im Kondom sammelt sich eine höchst banale Menge, und dahin ist unser geliebter Größenwahn. All das gehört in die Sphäre des Unbewußten, dem Kondom haben wir es zu verdanken, daß uns diese gesammelte Irrationalität jetzt anfällt.

Macht endlich Schluß mit den Lügen ums Kondom. Tut nicht länger so, als sei das Repertoire unserer Sexualität um eine weitere Fetischvariante ergänzt worden. Ein für allemal: Das Kondom beschneidet die Lust. An dieser Stelle endet wortreich das Latein von Detlev Meyer: „Für die Benutzung des Kondoms werden wir nicht mir Unsterblichkeit belohnt; Safer Sex heißt nicht, daß wir alle bei bester Gesundheit das hundertste Lebensjahr erreichen. Safer Sex ist nicht alles, aber etwas anderes gibt es nicht.“

Der Text ist der neuen bundesweiten Schwulenzeitschrift 'magnus‘ Nr.7/90 (Monumentenstraße 33/34, 1000 Berlin 62) entnommen.

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