Kleiderwechsel am Lac de Vasseviere

■ Beim Zeitfahren der vorletzten Etappe der 77. Tour de France nahm Greg LeMond aus den USA dem Italiener Claudio Chiappucci wie erwartet das Gelbe Trikot ab / Grünes Trikot für Olaf Ludwig (DDR)

Berlin (taz) - „Bei mir ist heute überhaupt nichts gelaufen“, jammerte Claudio Chiappucci aus Ubaldo bei Varese im Ziel der 20. Etappe der Tour de France. Neun Tage lang hatte der Italiener das Gelbe Trikot getragen, doch im 45,5 Kilometer langen Zeitfahren um den Lac de Vasseviere bei Limoges verlor er gegenüber Greg LeMond, der vorher in der Gesamtwertung fünf Sekunden hinter ihm gelegen hatte, stolze 2:21 Minuten und damit auch das wertvolle Stück Stoff.

Souveräner Sieger des Zeitfahrens wurde Erik Breukink aus den Niederlanden, der sich danach um so mehr über seine verpatzte Pyrenäen-Etappe von Luz Ardiden ärgerte, die ihm die Chance auf den Gesamtsieg geraubt hatte. Aufgegeben hatte sich bereits der Spanier Pedro Delgado. Er ließ es gemütlich angehen, kam fast zweieinhalb Minuten nach Breukink ins Ziel und hätte fast noch den vierten Rang an seinen Landsmann Marino Lejarreta verloren.

Die unerwartet deutliche Unterlegenheit von Chiappucci, der sehr zuversichtlich auf diese vorletzte Etappe gegangen war, nahm LeMond früh eine Zentnerlast von den Schultern. Der Radler aus Colorado war in den letzten Tagen äußerst angespannt gewesen, hatte unter Schlafstörungen gelitten und, wie er gestand, auch zu Beginn des Zeitfahrens „ein bißchen Angst“ gehabt. Die erste Zwischenzeit war jedoch Balsam für sein angekratztes Nervenkostüm. „Als ich wußte, daß ich eine Minute Vorsprung auf Chiappucci hatte, bin ich nicht mehr hundert Prozent gefahren.“ Der fünfte Platz reichte LeMond zu einer deutlichen Führung im Gesamtklassement, und nur noch ein gewaltiges Mißgeschick hätte ihn gestern daran hindern können, die letzte Etappe nach Paris zu einem persönlichen Triumphzug zu gestalten. Jubeln durfte auch Olaf Ludwig aus der DDR, dem ein 87. Platz am Lac de Vasseviere genügte, um sich endgültig das Grüne Trikot des Punktbesten zu ergattern.

Obwohl LeMonds dritter Tour-Sieg nach 1986 und 1989 ihn endgültig in den Kreis der größten Radfahrer aller Zeiten katapultieren würde, haftet dem Amerikaner auch in diesem Jahr wieder etwas Zwielichtiges an. 1986 war er vielfach als ein Gewinner von Bernard Hinaults Gnaden betrachtet worden und 1989 hatte er sich durch seine Defensivtaktik, das ständige Kleben an den Hinterrädern von Fignon und Delgado, unbeliebt gemacht. Diesmal beherrschte er die Tour zwar im Stile eines wahren Champions und legte in L'Alpe d'Huez, Saint-Etienne und Luz Ardiden mit fabelhaften Attacken die Grundlagen für seinen Erfolg, dennoch gab es wieder jede Menge Nörgler, die ihm vorwarfen, den ehrwürdigen Ethos der alten Radsportgiganten durch schnöden Geschäftssinn zu ersetzen.

Während es für frühere Koryphäen Ehrensache war, gerade auf den schwersten Abschnitten der Konkurrenz Lektionen zu erteilen, hatte LeMond bis zum Samstag keine einzige Etappe für sich entschieden und selbst bei seinen großen Auftritten im Ziel widerstandslos und desinteressiert Gianni Bugno (L'Alpe d'Huez), Eduardo Chozas (Saint-Etienne) und Miguel Indurain (Luz Ardiden) den Vortritt gelassen. Eddy Merckx wiederum, selbst fünfmaliger Tour-Gewinner, kritisierte den Amerikaner wegen seiner ausschließlichen Konzentration auf Tour und WM - jene beiden Ereignisse, die sich in den USA am besten vermarkten lassen. „Für ihn ist es gut, daß er gewinnt - nicht aber für die Tour“, grollte der legendäre Belgier.

LeMond wehrte sich erbost gegen solche Vorwürfe, verwies auf eine Virusinfektion zu Saisonbeginn und auf die Zeiten, die sich ja bekanntlich ändern. „Die Tage eines Merckx oder Anquetil sind vorbei“, konterte er grob, „wer heute die Tour im Stile eines Eddy Merckx fahren würde, wäre schön blöd.“

Matti

20. Etappe, Einzelzeitfahren (45,5 km): 1. Erik Breukink (Niederlande) 1:02:40 Stunden (43,5 km/h), 2. Raul Alcala (Mexiko) 0:28 Minuten zurück, 3. Marino Lejarreta 0:38, 4. Miguel Indurain (beide Spanien) 0:40, 5. Greg LeMond (USA) 0:57, 6. Pello Ruiz-Cabestany (Spanien) 1:28, 7. Dag-Otto Lauritzen (Norwegen) 2:01, 8. Pedro Delgado (Spanien) 2:21

Gesamtklassement: 1. LeMond (USA) 85:49,28 Stunden, 2. Chiappucci (Italien) 2:16 Minuten zurück, 3. Breukink 2:29, 4. Delgado 5:01, 5. Lejarreta 5:05, 6. Eduardo Chozas (Spanien) 9:14, 7. Gianni Bugno (Italien) 9:39, 8. Alcala 11:14, 9. Claude Criquielion (Belgien) 12:04, 10. Indurain 12:47, ... 87. Raab 1:41:05 Stunden zurück, 88. Kummer 1:42:38, ... 105. Schur 1:54:13, ... 136. Kappes 2:20:55, ... 141.Ludwig 2:26:41