Aus Vietnam in die Ungewißheit

■ Solange internationale Hilfe für Vietnam ausbleibt, hält der Exodus der Boat people an / Über 100.000 Vietnamflüchtlinge leben zur Zeit in Erstasylländern / Zunehmend restriktive Asylpolitik

Von David Browne

Eine alte indochinesische Spruchweisheit besagt, daß sich die Vögel nur dort niederlassen, wo es gutes Land und reichlich Nahrung gibt. Wenn das wahr ist, dann müssen die 100.000 vietnamesischen Flüchtlinge, die heute überall in Südostasien in dreckigen Lagern ihr Dasein fristen, eigentlich das Gefühl haben, sie hätten den Weg in die Freiheit besser durch die Luft als übers Meer gesucht.

Das Mitgefühl, das den vietnamesischen „Boat people“ einst entgegengebracht wurde, scheint aufgebraucht und droht einem offenen Zynismus Platz zu machen. Der malaysische Premierminister Mahathir Mohamad formulierte es kürzlich auf der Commonwealth-Konferenz so: „Man kann nicht von uns verlangen, daß wir uns mit diesem Abschaum abgeben... Wir werden einen Weg finden müssen, diese Leute wieder los zu werden.“

Diesen Kurs hatte Großbritannien vorgegeben. In der britischen Kronkolonie Hongkong sitzen rund 55.000 vietnamesische Asylsuchende in Lagern, die wie moderne Konzentrationslager wirken. Seit Juni 1988 laufen Überprüfungsverfahren; alles deutet darauf hin, daß mehr als 40.000 Antragsteller nicht als „politisch Verfolgte“, sondern als „Wirtschaftsflüchtlinge“ eingestuft werden.

Auf der „Internationalen Konferenz über die Indochina -Flüchtlinge“ in Genf erklärte der Gouverneur von Hongkong, Sir David Wilson: „Nach genauer Überprüfung hat sich gezeigt, daß in rund 90 Prozent der bisher untersuchten Fälle eine Einstufung der Flüchtlinge als politisch Verfolgte nach den international üblichen Kriterien nicht gerechtfertigt ist. Sie haben Vietnam hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Für sie gibt es praktisch keine Möglichkeit, sich in einem anderen Land niederzulassen.“

Großbritannien versucht, diese neue harte Linie durch weiche Formulierungen zu bemänteln. Statt von „Zwangsrückführung“ spricht man jetzt von „gebremster Aufnahme“ und von einem „Programm für die geordnete Rückkehr“. Doch Amnesty International hat auch die veränderten Pläne der britischen Regierung kritisiert und fordert juristischen Beistand für die Menschen in allen Phasen des geplanten Ausweisungsprozesses, bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem ein endgültiger Beschluß über ihren Status gefallen sei, sowie ein Einspruchsrecht.

Trister Alltag

in den Lagern

Die 33jährige Luu Hue Chau, Mutter zweier kleiner Jungen, kann mit all der Wortakrobatik nichts anfangen. Für ihre Meinung hat sich ohnehin noch nie jemand interessiert. Sie gehört zu den Zehntausenden von Boat people aus Vietnam, die im Hin und Her von statistischen Tricks und politischen Winkelzügen auf der Strecke bleiben. Chau und ihre Söhne Di und Chi, elf und zwölf Jahre alt, leben im „Whitehead Detention Centre“, einem Lager für Vietnamflüchtlinge in den „New Territories“, im Hinterland von Hongkong. 15.000 Menschen sind hier eingesperrt.

Chaus Alltag ist trist: In Whitehead ist alles grau, die Betonsportplätze, die Wände der Fertigteilbaracken mit den Wellblechdächern, der sechs Meter hohe Sicherheitszaun, der von einer doppelten Reihe Stacheldraht gekrönt wird. Alles präsentiert sich im Behördengrau, und so lebt man hier auch. 358 Aufseher hat die Gefängnisverwaltung von Hongkong abgeordnet, um die Lagerinsassen zu bewachen, die ihre Tage hinter Stacheldraht in resignierter Langeweile verbringen.

Es gibt einfach nichts zu tun, die Einrichtung von Werkstätten und Bildungseinrichtungen ist am Platzmangel gescheitert. 3.000 Schüler hat die „Schule“ des Lagers aber kein einziges Klassenzimmer. Fußballspielen scheint der einzige Zeitvertreib. Mit wildem Grimm spielen die jungen Männer, den ganzen Tag, bis in die Abendstunden. Ansonsten kommt nur etwas Leben ins Lager, wenn die Flüchtlinge ihre Essensration entgegennehmen: Reis, Gemüse und ein wenig Fleisch.

„Ich bin sehr unglücklich hier“, sagt Chau. „Man lebt wie im Gefängnis.“ Früher, in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon, hat sie Kleider auf dem Markt verkauft. „Sicher, man kümmert sich um uns, aber die Umstände sind schlimm, nichts als Elend. Was soll ich hier machen? Das ist kein Leben für meine Kinder, ich will nicht, daß sie hier aufwachsen. Aber ich bin hilflos. Wir wissen schon, daß die Regierung von Hongkong viele Leute zurückschicken wird. Aber, was mich angeht - ich glaube, es ist besser, hier zu sterben als zurück nach Vietnam zu gehen.“

Auch die über 2.000 Flüchtlinge in Stonecutter's Island leben unter unwürdigen Bedingungen, zusammengepfercht wie Vieh, auf fünf ausgemusterten Fährschiffen im Hafen. Dennoch, für den Fall, daß man sie zwingen will, in ihre Heimat zurückzukehren, haben sie kollektive Selbstmorde angedroht.

„Eine Politik, die

bewußt Elend erzeugt“

Bei den humanitären Hilfsorganisationen, die sich um die Boat people kümmern, hält man die britischen Repatriierungspläne für ein Unrecht und ist überzeugt, daß sie zum Scheitern verurteilt sind. Der Internationale Rat der Freiwilligen Hilfsorganisationen hat kürzlich in einer offiziellen Stellungnahme erklärt: „Die zwangsweise Rückführung der vietnamesischen Flüchtlinge stellt eine Verletzung der allgemein anerkannten Grundsätze im im internationalen Recht dar. Die Asylsuchenden aus Vietnam haben die Entscheidung, aus ihrem Land zu fliehen, nicht leichtfertig getroffen. Aber man behandelt sie häufig als unerwünschte Fremde, unterstellt ihnen fragwürdige Motive und bezeichnet sie allgemein als 'Wirtschaftsflüchtlinge‘ ein Begriff, der inzwischen weltweit abwertend gebraucht wird.

Die Möglichkeiten für die 'Erstaufnahme‘ in der Region haben sich besorgniserregend verschlechtert. Die Erstasylländer zeigen sich zunehmend intolerant, seit immer weniger Länder außerhalb der Region bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir sind sehr besorgt angesichts der Berichte aus den Flüchtlingslagern von Hongkong, die eindeutig belegen, daß dort Menschen unter entwürdigenden und lebensbedrohenden Bedingungen existieren müssen, deren einziges 'Vergehen‘ darin besteht, daß sie Zuflucht suchen. Wir verurteilen dies als ein schlimmes Beispiel einer Politik, die darauf zielt Einwanderer abzuschrecken, indem sie bewußt Elend erzeugt.“

Der Flüchtlingsstrom

reißt nicht ab

„Das Problem ist vielschichtig und kompliziert“, meint Joan Summers, die in Hongkong die Hilfsprogramme der Organisation „Save The Children“ koordiniert. „Es gibt keine einfachen Lösungen. Schließlich geht es um Familien und Kinder, da darf man keine leichtfertigen Entscheidungen treffen. Die Zwangsrückführung ist jedenfalls nicht der richtige Weg.“ Noch deutlicher äußert sich Adrie Van Gelderen, der für den „International Social Service“ arbeitet, eine der fünf freiwilligen Hilfsorganisationen, die im Lager Whitehead tätig sind: „Die Politik der Regierung von Hongkong ist wie eine Aspirin-Kur. Erst wenn man die Kopfschmerzen hat, tut man etwas dagegen. Natürlich kann die Regierung diese 50.000 loswerden - aber dann kommen eben die nächsten 50.000. Solange die Probleme in Vietnam nicht gelöst werden, geht der Zustrom von Boat people nach Honkong weiter, so sicher wie der nächste Taifun. Darauf muß man vorbereitet sein, ob es einem paßt oder nicht. Die Frage ist doch, weshalb die Leute aus ihrem Land fliehen. Will man das Problem an der Wurzel packen, muß man in Vietnam anfangen, nicht in Hongkong.“

Man kann sich in der Tat fragen, weshalb die Menschen 15 Jahre nach Beendigung des Krieges noch immer in großer Zahl das Land verlassen. Es sind ganz normale Leute, die sich den Gefahren einer Reise über das südchinesische Meer aussetzen, unter extremen Bedingungen, oft in winzigen überfüllten Holzbooten, bedroht von Wind und Wellen, Haien und Piraten. Seit dem Sieg der kommunistischen Streitkräfte über die Republik Südvietnam, am 30.April 1975, hat sich über eine Million auf diesen gefährlichen Fluchtweg begeben.

Die jüngste Statistik des „United Nations High Commissioner for Refugees“ (UNHCR) zählt (im Mai 1990) 112.426 Vietnamflüchtlinge in der Region: Außer in Hongkong gibt es noch rund 18.000 in Malaysia, 16.000 in Indonesien, 14.000 in Thailand, noch über 9.000 auf den Phillippinen, über tausend in Japan und einige hundert in Macao, Singapur und Korea.

Wie für die meisten Flüchtlinge sind auch für Chau die Schrecken der Passage von Ho-Chi-Minh-Stadt nach Saigon noch gegenwärtig - 2.000 Kilometer in dreißig Tagen. „Nie werde ich die Wellen vergessen. Riesige Wellen... Als ob man in einem großen Faß herumgerollt würde. Ich dachte, das Boot bricht auseinander; ich war voller Todesangst.“ Chau hat für die Überfahrt umgerechnet 1.300 D-Mark gezahlt.

Wie viele Vietnamesen chinesischer Herkunft sind Chau und ihre Familie geflohen, um den Schikanen und den Vorurteilen der Regierungsfunktionäre zu entgehen. „Sie haben uns immer wieder Schwierigkeiten gemacht, nur weil wir Chinesen sind. Thoi, mein Mann, fand keine Arbeit, die Jungen konnten nicht zur Schule gehen.“

So beschreibt auch Tran Lich Sau die Gründe für seine Flucht. Der 35jährige Zimmermann, auch er ein Vietnamese chinesischer Abstammung, ist zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter und seiner Mutter geflohen. Nun sind sie in Japan, im Auffanglager Omura bei Nagasaki. „Wir sind aus Vietnam geflohen, weil wir in die Freiheit wollten. Die Vietnamesen verachten die Chinesen. Aber es geht allen schlecht in Vietnam, die politische Lage ist sehr, sehr schlimm. Zu viel Korruption und zu wenig zu essen.“ Sau hat einen Bruder in Australien, dort würde er gern leben. „Wir sind bereit, in Australien jede Art von Arbeit anzunehmen, egal was - wenn wir nur nicht nach Vietnam zurück müssen.“

Andere sind aus politischen Gründen verfolgt worden. In Puerto Princesa, einem Erstasyllager auf der philippinischen Insel Palauan erzählt ein früherer Offizier der südvietnamesischen Luftwaffe, der sich Son nennen läßt: „Also, ich habe in der Nähe des Bahnhofs gewohnt. Und jedesmal, wenn es in der Gegend einen Anschlag auf die Telegrafenleitung gab, haben die kommunistischen Autoritäten uns Ex-Soldaten die Schuld gegeben. Sie hatten keine Ahnung, wer es war, aber wir sollten schuld sein. Alle, die früher in der Armee waren, sind verfolgt worden. Man hat unser Vermögen beschlagnahmt, wir mußten Zwangsarbeit leisten. Um zu fliehen, fehlte uns das Geld, deshalb haben manche sehr lange gebraucht, um wegzukommen.“ Der 34jährige Son hat seine Frau und zwei Kinder in Vietnam zurückgelassen.

Die 49jährige Oanh Truong Kim hatte zu leiden, weil sie früher in einem Club für US-Soldaten gearbeitet hat. „Ich will ja gar nicht reich werden“, sagt sie, „ich will nur meine Freiheit. Selbst wenn ich in Vietnam ein großes Haus mit allem Luxus hätte, es würde mir dort nicht gefallen. Sogar unter den Umständen hier, in all dem Dreck, geht es mir gut. Ich will nur frei sein.“

Die Anliegen dieser Menschen muß man ernst nehmen, der Führung Vietnams ist gewiß einiges vorzuwerfen. Aber es wäre unsinnig, ihr allein die Schuld am Exodus der Boat people geben zu wollen. Der vietnamesische Außenminister Nguyen Co Thach erklärte kürzlich: „Ich möchte darauf hinweisen, daß es hier nicht nur um vietnamesische Probleme geht. Dafür, daß sich die Menschen so gedrückt fühlen, daß sie das Land verlassen wollen, sind nicht allein wir verantwortlich. Es liegt nicht bloß an unserer Politik, sondern an der vierzigjährigen Geschichte von Wirtschaftsblockaden und Kriegen, die fremde Mächte gegen Vietnam geführt haben.“

Die Schuld liegt nicht

allein bei Vietnam

Nach Ansicht der meisten Beobachter spielen die USA eine zentrale Rolle in der Boat-people-Krise - man geht davon aus, daß die Flüchtlingsfrage dazu herhalten soll, dem früheren Gegner Schaden zuzufügen. Offenbar reicht es den USA noch nicht, daß Vietnam auf den „killing fields“ von Kambodscha ausgeblutet wurde. Bis dato sorgte die US-Politik dafür, daß das Land politisch und finanziell geächtet blieb. Aber solange der Haß der Vergangenheit weiter genährt wird und das unglückliche Vietnam kein Angebot zur Versöhnung erhält, so lange wird die Auswanderung anhalten. Nur durch internationale Wirtschaftshilfe könnte das Problem grundlegend und dauerhaft gelöst werden.

„Es ist höchst doppelzüngig, wenn die USA die Zurückweisung von Flüchtlingen beklagen, und selber die Menschen aus Haiti in größter Geschwindigkeit fortbringen lassen“, sagt Chris Bale der Leiter von Oxfam in Hongkong. „Man kritisiert, daß es in Vietnam keine Freiheit und keine Hoffnung gibt, daß wirtschaftliches Chaos und Lebensmittelknappheit herrscht. Aber dagegen könnte man mit Wirtschaftshilfe etwas ausrichten. Die USA haben das Problem durch die fortdauernde Ächtung Vietnams überhaupt erst entstehen lassen.“

Für viele Boat people hat sich unterdessen der Traum von der Freiheit in einen Alptraum verwandelt. Pham Thi Huu Hanh, einer 28jährigen Friseuse, die im Lager Whitehead lebt, steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben: „Als ich Hongkong zum ersten Mal sah, war ich überglücklich. Ich war froh, noch am Leben zu sein. Ich dachte, nun wird sich mein Leben ändern. Jetzt halte ich es nicht mehr aus. Ich werde verrückt. Hoffentlich kann ich eines Tages fortgehen.

In der freien Welt gibt es doch Menschenrechte. Und wir sind Menschen.“ Übersetzung: Edgar Peinel