Vertrauen auf Widerstandsfähigkeit der Crew

■ In der tschechoslowakischen Atomindustrie geht die Angst vor den eigenen Kraftwerken um / Statt Ausstieg läßt sich die CSFR von der französischen Framatome und Siemens-KWU aufschwatzen, was die westliche Welt längst nicht mehr kauft

Von Friedhelm Wachs

Von draußen ist der kleine Aufkleber neben der Tür kaum sichtbar. Erst wer aus dem etwa 30 Quadratmeter großen Ruheraum durch die Glasabtrennung in das Halbrund derBlockwarte im AKW Dukovany schaut, springt er wie ein riesiges Warnsignal ins Gesicht, der knallgelbe Greenpeace -Sticker „Stopt CSFRnobyl“.

Doch statt den Reaktor abzuschalten, schieben die drei in weiß gekleideten Bedienungsingenieure gleichmütig, fast schläfrig ihre Schicht. Wie Bademeister beobachten sie das Halbrund, laufen vor den Steuertafeln und Instrumenten herum. Wie Krankenpfleger notieren sie jede Veränderung ihres Patienten. Der macht sich plötzlich mit einem Alarmsignal bemerkbar. Ein Bedienungsingenieur läuft zu seinem Schreibtisch, gibt in seinen Terminal etwas ein und verschwindet dann hinter den riesigen Elektronikschränken. Als er wiederkommt, diagnostiziert er eine Fehlermeldung: „Da wurde uns ein Kabelbrand gemeldet, aber es war keiner.“

Ende Juni 1990. Und mittendrin steht die erste Delegation der Grünen Bundestagsfraktion und wundert sich. Denn derartige Fehlermeldungen seien, so der stellvertretende Direktor für Strahlenschutz und Technik in Dukovany, Pavel, höchst selten.

Wie real ein solcher Brand werden kann, ist im Störfallbericht der Tschechoslowakischen Atomkommission über das AKW Jaslovske Bohunice dokumentiert. „Am 5. Juni 1989 um 00.02 Uhr kam es zu einer Störabschaltung der Hauptspeisewasserpumpe Nr. 11 durch eine elektrische Störung und gleichzeitg zur Wirkung des elektrischen Feuersignals in der Betriebsfeuerwehrstation. Die Bedienungsmannschaft der Maschinenhalle stellte Rauch im Raum der Saugrohrleitung von Pumpe Nr. 11 fest.

Um 00.06 Uhr fanden sich in der Maschinenhalle Feuerwehrleute ein. Nach der Feststellung, daß sich das Feuer im Kabelraum befindet, wurde der Block nach Befehl des Schichtingenieurs um 00.16 Uhr durch Handtaste ausgeschaltet. Um 00.21 Uhr meldete der Kommandant der Feuerwehrleute, daß das Feuer im Kabelraum gelöscht sei.“ Doch: „Die Tatsache, daß das Feuer rasch lokalisiert und liquidiert wurde und daß es sich nicht auf weitere Kabelräume ausbreitete, ist das Ergebnis des einfachen Zuganges zum Brandherd und des opferwilligen Einsatzes von Schichtarbeitern und Feuerwehrleuten.“

Auf deutsch: Es hätte auch ganz anders kommen können.

Während sich im Renommier-AKW Dukovany, durch das heute nach französischem PR-Konzept auch AKW-Gegner geschleust werden, die Zahl der bedeutenden Störfälle noch in Grenzen hält, fordert für das AKW Jalsovske Bohunice selbst der Chef der Prager Atomkommission, Beranek, die rasche Abschaltung. Der brachte seine Bedenken in der Wochenzeitung 'Nove Slovo‘ in einem Interview auf den Punkt: Wenn die Hauptkühlleitung platze, müsse es zwangsläufig zu einem teilweisen Schmelzen der Brennelemente und zur Explosion des Reaktors kommen, weil eine ausreichende Notversorgung fehle.

Doch die nun von Beranke in die Öffentlichkeit getragenen Bedenken sind der alten wie auch der neuen Regierung schon lange bekannt gewesen. So wurden die V1 genannten Blöcke von Jaslovske Bohunice in einem Regierungsbericht aus dem Jahre 1986 als „das schwächste Glied der tschechoslowakischen Kernenergetik“ benannt. Auch der letzte Störfallbericht für 1989 der Staatlichen Atomkommission weist schon auf Seite drei darauf hin, daß für die ersten beiden Blöcke von Jaslovske Bohunice „die Gewährleistung der Kernsicherheit nicht den gegenwärtigen Anforderungen“ entspricht. Allein 1989 wurden von der Störfallkommission des AKW V1 85 Störfallberichte behandelt.

„Das bedeutendste Ereignis vom Standpunkt der Kernsicherheit ist die Beschädigung der Kabelverbindungsstücke in der Speisung der Hauptumwälzpumpe Nr. 22, so geschehen am 20. Mai 1989 und am 2. Juli 1989. Zur Beschädigung kam es durch den elektrischen Duchschlag der Isolation, was zur Abschaltung der Hauptumwälzpunpe Nr. 22 und zum Betrieb des Reaktors mit 5 Schleifen bis zur Reparatur der Kabelverbindungsstücke führte“, dokumentiert der Störfallbericht.

Um in einer kritischen Situation, in der der Wasserstand im Dampferzeuger des Reaktors unkontrollierbar anstieg, bei der notwendigen schnellen Leistungsreduktion in Turbogenerator und Reaktor der Schnellabschaltung des Reaktors zuvorzukommen, schaltete das Bedienungspersonal den Schnellabschaltungsmechanismus einfach aus. Menschliches Versagen a la Tschernobyl.

Nicht nur im aktuellen Betrieb jagen sich die Probleme. In Jaslovske Bohunice steht kein ausreichendes Kontrollsystem zur Verfügung, von 52 Meßpunkten sind gerade 27 Punkte von außen zu Wartungszwecken zu erreichen. Die Materialermüdung insbesondere des Reaktordruckbehälters ist nicht abschätzbar, weil sämtliche Unterlagen über den Bau dieses AKWs fehlen und auch beim Produzenten in der UdSSR nicht zu finden sind. Keiner weiß also, welche Zeitbombe Mangelwirtschaft, Not- und Ersatzlösungen produziert haben. Zu allem Überfluß steht das Atomkraftwerk Jasovske Bohunice auch noch in einer durch Erdbeben gefährdeten Zone. Schutzvorrichtungen gegen Erdbeben gibt es nicht.

Der Versuch, nachträglich einen antiseismischen Schutz (SIAZ) zu installieren, ist auch aus der Sicht des Störfallberichtes 1989 kläglich gescheitert: Daraus geht hervor, daß die Anlage unzuverlässig, ungeeignet für die Einleitung ins System der Schnellabschaltung des Reaktors ist und die Anforderungen für sonstige Schnellabschaltungssysteme nicht erfüllt.

Trotz dieser gravierenden Mängel wird an anderen Atomstandorten in der CSFR weitergebaut. In Mochovce wird der gleiche Typ wie in Jaslovske Bohunice und in Dukovany errichtet, mit den gleichen Schlampereien. Der Bericht: „Es wurde festgestellt, daß der Investor keinen klaren Überblick über realisierte Lieferungen und über deren Lagerung hat.“ Die technische Dokmentation sei nicht komplett, vorgeschriebene Qualitätskontrollen fehlen, selbst zentrale Reaktorteile gingen ukontrolliert durch.

In Temelin, wo ursprünglich vier 1.000-MW-Reaktoren Atomstrom und Atomwärme prodzuieren sollten, wurde der Bau der Blöcke 3 und 4 durch die Regierung gestoppt. Doch die beiden anderen Reaktoren aus der sowjetischen WWER 1000 Serie werden gebaut. Auch für diese Meiler - zwei weitere dieser Baureihe werdn derzeit in Stendal nördlich von Magedeburg errichtet - stellt der Bericht der Staatlichen Inspektion fest, daß sie ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. So werden unter anderem durch den Brennstoffzyklus „in einigen Regimes äußerst unerwünschte positive Werte des Temperaturkoeffizienten der Reaktivität verursacht.“ Schwankungen des Neutronenflusses seien nicht automatisch steuerbar. Fakten, die auch AKW-freundlichen Atomphysikern die Haare zu Berge stehen lassen. Die Lösung, die der Bericht vorsieht, ist unglaublich: „Die Erfahrungen von in Betrieb befindlichen Blöcken in der UdSSR und in Bulgarien bestätigen, daß sie schwer zu regeln und deshalb äußerst instabil sind. Die unzureichende automatische Steuerung des Reaktors vertraut deshalb auf Ausbildung, Qualität und psychische Widerstandsfähigkeit der Reaktormannschaft.“

Um nachträglich westlichen Standard in Temelin noch einzuführen, sollen für einige Projekte und die erst einmal gestrichenen beiden Blöcke 3 und 4 an den Ausschreibungen auch die Firmen KWU-Siemens, Framatome und Westinghouse beteiligt werden: Modell DDR.

In Mochovce, so das CSFR-Fernsehen am letzten Donnerstag, soll schon in dieser Woche ein Vertrag mit den westlichen Firmen unterzeichnet werden, der deren Beteiligung am tschechoslowakischen Atomprojekt sichert.