Tauziehen um vierundzwanzig Stunden im Dezember

■ Wahltaktik bestimmt die Debatte um den Zeitpunkt des Beitritts: Die CDU fürchtet einen neuen Vorstoß der CSU, die SPD will die PDS draußen lassen

Wer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hinauszögere, so drohte der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff am Samstag, der gefährde die wirtschaftliche Entwicklung und trage Schuld an erheblichen Arbeitsplatzverlusten. Nun werden wohl viele Bürgerinnen und Bürger der DDR angesichts der Heftigkeit der Volkskammerdebatten über den Zeitpunkt des Beitritts verständnislos den Kopf schütteln. Warum wird um eine zeitliche Differenz von genau 24 Stunden überhaupt gestritten? Warum soll ausgerechnet davon der wirtschaftliche Zusammenbruch oder die wirtschaftliche Prosperität abhängig sein? Letzteres wird wohl das Geheimnis des Grafen bleiben.

Die Heftigkeit, mit der die Kontroverse geführt wird, enthält bereits einen Hinweis darauf, daß handfeste parteipolitische Eigeninteressen mit im Spiel sind. Denn es geht nur vordergründig um die Frage, ob der Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes einen Tag vor oder nach der Wahl erfolgt. Kern des Konflikts ist die damit verbundene Frage des Wahlrechts, mithin also das Interesse der verschiedenen Parteien, sich über dieses Vehikel eine möglichst günstige Ausgangspositon für die Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Parlament am 2. Dezember zu verschaffen. Getrenntes Wahlgebiet bedeutet, daß die Parteien in der DDR absolut weniger Stimmen benötigen, um eine Prozentklausel zu überwinden. Kein Wunder also, daß sich sämtliche Lager wechselseitung Wahltaktik vorwerfen.

Dabei plädiert die CDU für Beitritt unmittelbar nach der Wahl. Die Folge davon sind getrennte Wahlgebiete und damit verbunden die Hoffnung, die Konkurrenz zwischen der PDS, den anderen kleinen Parteien und der SPD werde den Sozialdemokraten Stimmen kosten. Gleichzeitig würde sich die Chance der CSU-Schwesterpartei DSU vergrößern, ins gesamtdeutsche Parlament einzuziehen. Umgekehrt die Liberalen und die SPD, die sich mit einem eiheitlichen Wahlgebiet und einheitlicher Fünf-Prozent-Hürde zusätzliche Stimmen sichern wollen. Pikant dabei ist die Haltung der PDS, die mit der ehemaligen Blockpartei CDU an einem Strang zieht. Auch das Bündnis 90/Grüne rechnet sich bei einem nachgezogenen Beitritt größere Chancen aus und stimmte am Freitag in der Volkskammer gemeinsam mit CDU, DSU und PDS gegen den Antrag der Liberalen.

Bei der Kontroverse ziehen die jeweiligen Schwesterparteien in Ost und West - welch ein Zufall! - an einem Strang. Die offizielle Bonner Regierungsposition lautet, es sei allein Sache der DDR-Regierung, über Beitrittstermin und Wahlrecht zu entscheiden. Die zahlreichen Verlautbarungen Bonner Politiker, der Rüffel Kohls gegenüber Lambsdorff, nächtliche Telefonate de Maizieres während der Krisensitzung des Koalitionsausschusses in der Nacht zum Freitag sprechen da eine andere Sprache. Es ist nicht nur das gemeinsame Interesse der bald vereinigten Parteien in Ost und West an einem möglichst großen Anteil an Wählerstimmen, das da durchschlägt, sondern - vor allem für die CDU - auch die Frage der Parteienkonstellation im vereinten Deutschland.

Mit einer kleinen PDS auf den äußersten linken Sitzen des Parlaments in der ersten Legislaturperiode des vereinigten Deutschlands kann die CDU ohne Schwierigkeiten leben. Nicht nur wegen der Wählerstimmen, die diese der SPD nimmt. Auch für die Fusion der beiden ungleichen Staatsapparate verspricht sich die CDU Vorteile, wenn die PDS noch einmal, und vermutlich ein letztes Mal, im Parlament sitzen wird. Ein öffentlich greifbares Dahinsiechen einer Linken Liste/PDS erleichtert das Umpolen der ehemals SED-loyalen Staatsdiener der DDR in treue bundesdeutsche Beamte. Der Knackpunkt liegt für die Union aber im künftigen Verhältnis von CDU und CSU und in der Angst vor strategischen Konsequenzen für den Fall, daß die DSU in der DDR scheitert. In der CSU haben nach einigem Hin und Her die Gegner einer Ausweitung der Partei auf das Gebiet der DDR die Oberhand behalten, damit wurde die DSU zur östlichen Schwesterpartei. Sollte die CDU mit ihrer Forderung nach einem späteren Beitrittstermin und getrennten Wahlgebieten baden gehen und die DSU nicht ins neue Parlament einziehen, läge es für die Strategen in München nahe, den Joker einer landesweiten Ausdehnung nochmals aus dem Ärmel zu ziehen. Die Argumente blieben dieselben, mit denen jetzt die Unterstützung der DSU begründet wird: Der Platz rechts von der CDU müsse auch in der künftigen Parteienlandschaft besetzt sein, oder: „Deutschland wird größer, Bayern wird kleiner.“ (Lambsdorff)

Allem Gerede um eine unabhängige Entscheidung der DDR -Regierung zum Trotz dürfte hierin ein Grund für die Unnachgiebigkeit liegen, mit der de Maiziere am Wochenende zunächst an seiner Position festhielt. Hansjoachim Walther von der DSU griff dies auf seine Weise auf, als er letzte Woche erklärte, de Maiziere stehe gegenüber Bonn in der Pflicht. Seine feste Haltung in dieser Frage trug dem Ministerpräsidenten prompt Vorwürfe wie „unerhörte Sturheit“ (Thierse, SPD) ein. Seltsame Verkehrung der Argumentationen: De Maiziere selbst begründete am Freitag in der Volkskammer seine Position mit hehren Zielen, nämlich einer besseren Durchsetzung der Interessen der Bevölkerung gegenüber Bonn. Ein sofortiger Beschluß über den Betritt mit Wirkung zum 1. Dezember 1990 untergrabe die Einflußmöglichkeiten der DDR -Regierung bei den Verhandlungen um den zweiten Staatsvertrag, auch „Einigungsvertrag“ genannt, in dem die Bedingungen des Beitritts geregelt werden sollen. Der Ministerpräsident sprach das Beispiel der ungeklärten Eigentumsfrage an - ein Thema, das vielen in der DDR am Herzen liegt. Es gebe bisher nur eine gemeinsame Erklärung über die Eigentumsordnung, aber noch keinen Vertragstext. Wenn die DDR jetzt ihren Beitritt zur BRD mit Wirkung zum 1. Dezember beschließe, dann werde das Grundgesetz in seiner jetzigen Form mit dem Tage des Beitritts auch in der DDR gelten. Bonn könne die Dinge dann durch bloßes Herauszögern in seinem Sinne regeln.

Angesichts der Bonner Diktate der vergangenen Monate ist es mehr als zweifelhaft, ob der Ministerpräsident tatsächlich den Spielraum hat, den er jetzt ins Felde führt. Auch beziehen sich seine Argumente gleichermaßen auf beide jetzt debattierten Beitrittstermine. De Maiziere dürfte es also eher darum gehen, die Frage des Beitritts von der des Wahltermins zu trennen - oder einfach auf den Faktor Zeit zu setzen. Denn wenn sich die Regierung bis Ende des Monats nicht zu einer Entscheidung durchringt, wird sich allein aus Zeitgründen die Variante der CDU durchsetzen. Und schließlich gibt es bereits ein schönes Beispiel, wie man mit solch kniffligen Fragen auch verfahren kann: Ein Antrag der DSU vom 17. Juni auf sofortigen Beitritt verschwand in den zuständigen Ausschüssen und kann, je nach Belieben zu einem günstig erachteten Termin wieder hervorgezogen werden.

Beate Seel