Hubschrauber über Abendbrottellern

■ Eine Anwohnerin des Potsdamer Platzes über die Zumutungen der „Katastrophenkultur“ nach dem „The-Wall„-Spektakel

WOHNEN AM GESCHICHTSSPIELPLATZ

Der Potsdamer Platz scheint sich als Austragungsort von Gründungsveranstaltungen humanistoider Stiftungen zu etablieren. Ich bin sicher, daß man in Bayreuth oder in Bad Segeberg schon fieberhaft über einen Wechsel des Veranstaltungsortes nachdenkt. Eines Tages wird man dann mit dem Bau gigantischer Bühnen beginnen und sich überaus erstaunt darüber zeigen, daß die Anwohner das ganze Unterfangen nicht ganz so enthusiastisch beurteilen wie die profitierenden Veranstalter, die jedoch unisono Gegenteiliges behaupten. Wagners Ring oder Winnetou in den lupinenträchtigen Sand des Todesstreifens zu setzen wer dürfte sich da noch zu einer Kritik erdreisten angesichts der vielen benötigten Statisten? Und wer darf sich da, angesichts des realen akustischen, visuellen und ideellen Katastrophenverbundes Namens The Wall, ein wahres Verschmutzungsgesamtkunstwerk, das aus jedem Toten der Weltkriege noch nachträglich fünf Englische Pfund herausklopfen will, noch über Verlust von Lebensqualität beschweren?

Der windschnittige Pressesprecher des The-Wall -Unternehmens bedauerte, daß wir, die Anwohner der Bernburger/Köthener Straße, nicht informiert worden waren. Da habe das mit den Postwurfsendungen beauftragte Unternehmen wohl schlampig gearbeitet. Auf meine Frage, ob Katastrophensoforthilfe für Anwohner des Potsdamer Platzes geplant sei, etwa in Form von beschallungsfreien Hotels, die für die Dauer einer Woche von betroffenen Anliegern aufgesucht werden können, sagte er etwas von „weitverbreitetem Entschädigungsdenken in diesem Lande“, und auch er säße jetzt in seinem sehr lauten Büro in der Kurfürstenstraße und müsse arbeiten. Meinem telefonischen Hilferufen nach Evakuierung aus diesem Kriegsgebiet Neoberliner Propagandaveranstaltungen wurde durchaus höflich zugehört bei den verantwortlichen Polizeiinstanzen in Ost und West. Meine Krisenberichte von der seit einer Wochen tobenden Front des Beschallungskrieges gegen jede Art von Nachdenken und Vernunft verhallten jedoch ohne konkrete Hilfsaktionen für mich und meinen Mann.

Aufgrund meiner Herkunft und Familiensituation sind mir Stalingrad und Auschwitz keine Fremdbegriffe, und die Suchscheinwerfer am Himmel lösen nicht transzendendierendes Entzücken, sondern Panik bei mir aus. Martialische Musik, zum Teil zwölf Stunden hintereinander - welcher wackere SPD -Politiker würde das nicht im anderen Kontext als Folter bezeichnen? (womit die SPD hinreichend beschrieben wäre, sezza) Ich fühlte mich an meine Aufenthalte in der Westbank erinnert. Qualen wie Kopfschmerzen, Schlafverlust, Arbeitsstörungen, fast zwei Wochenenden und die Abende bis spät in die Nacht hinein das martialische Bummbumm der ewig gleichen Akkorde einer Musik, die ich mir freiwillig selbst in Teenie-Zeiten nie anhören mochte. Hubschrauber über unseren Abendbrottellern, Polizeilautsprecher, die Sirenen der Ambulanzen, dann die völlige Überschwemmung der Gegend mit Hunderttausenden der Jünger der Endkultur des 20. Jahrhunderts, die zum Ort ihrer Erlösung taumeln, Verabredungen mußten abgesagt, Arbeit am Schreibtisch verschoben, Fenster bei sommerlichen Temperaturen geschlossen gehalten werden. Telefongespräche mußten abgebrochen werden. Mütterliches Vorratsdenken erwies sich zum ersten Mal als überaus nützlich, wir bereuten die bestehende Unordnung im kühlen Keller, der als Notbunker so nicht in Frage kommen konnte, und begannen von lässigen Einkaufsbummeln in Manhattan zu schwärmen. „Wenn Sie so empfindlich sind, warum sind Sie denn an den Potsdamer Platz gezogen?“ offenbarte mir in aller Unschuld ein Herr des Umweltsenats seine deutsche Beamtenweltfremdheit.

Rita Ottens