Sehnsucht nach dem starken Staat

■ Neofaschistische Gruppierungen in der russischen Föderation

INTERVIEW

Der Moskauer Journalist Wladimir Pribylowskij, 34, ist Mitbegründer des alternativen Informationsdienstes „M-Bio“ und wurde innerhalb der letzten Monate notgedrungen zum hauptstädtischen „Parteienspezialisten“. Die taz befragte ihn zu den neuen rechtsextremen Parteien in Rußland.

taz: Warum hat die neofaschistische Bewegung „Pamjat“ („Gedächtnis“, d.Red.) jetzt eigene Parteien gegründet, wenn sie doch gar kein parlamentarisches System ansteuert?

Pribylowskij: Korrekterweise kann man gar nicht von der „Pamjat“ sprechen, weil es jetzt allein in Moskau zumindest acht oder neun, zum Teil rivalisierende, Gruppen dieses Namens gibt. Aus diesen Kreisen sind dieses Frühjahr immerhin zwei Parteien hervorgegangen, um den allgemeinen Trend für die Eigenwerbung zu nutzen. Es sind die „Republikanische Volkspartei Rußlands“ (RNPR)- sie vertritt eher die national-rechtgläubige Tendenz - und die „Partei der Wiederauferstehung Rußlands (PWR)“, die bisher eher national-bolschewistisch orientiert war. Allerdings baut sie diese Orientierung ab, wie auch andere „Pamjat„-Gruppen, seit die KPdSU in der Bevölkerung einen derartigen Autoritätsschwund erleidet.

War nicht diese Verquickung von Rückschau ins 19. Jahrhundert und Neostalinismus überhaupt rätselhaft?

Keineswegs. Es gibt da ganz stabile Verbindungsglieder: beide Gruppen eint die romantische Begeisterung für ein großrussisches Imperium in den Grenzen der heutigen UdSSR, die Sehnsucht nach dem starken Staat, der Kampf gegen die „zionisierte Intelligenz“ und der Umstand, daß Menschenrechte und die Souveränität des Individuums ihnen so überflüssig erscheinen, daß sie nicht einmal als Zierrat erwähnt werden.

Wie wirkt auf diese Kreise die „Demokratisierung“?

Ich war am 6. Juni auf einem Abend der „Volks -rechtgläubigen Bewegung“ im Kulturhaus „Roter Oktober“. Ikonen und monarchistische Symbole beherrschten die Bühne. Den Lenin, der hier wohl sonst dominiert, hatte man diskreterweise in die Kulissen geräumt. Ein ziemlich großer Adler hing auch irgendwo herum. Nach einem patriotischen Choral trat Alexander Kulakow auf, der Führer, einer der „Pamjat„-Vereinigungen. Er verkündete die kollektive Schuld des jüdischen Volkes angesichts des 70jährigen Genozids an den Russen. Nicht ein einziger Jude solle aus unserem Land emigrieren dürfen, bevor er nicht seine Unschuld an unserer Geschichte bewiesen habe. Was mit den „schuldigen Juden“ geschehen solle, überließ er unserer Phantasie.

So etwas hat man in Rußland noch nie von einer „offiziellen“ Bühne verkünden gehört. Und das Gleiche gilt für den nächsten Beitrag. Paschnin rief offen zum „Partisanenkrieg gegen alle prowestlichen Elemente“ auf. Dieser Mann hat jahrelang wegen irgendwelcher läppischer Flugblätter gesessen, und jetzt verstößt er offen gegen die Konstitution, sät sozusagen „Nationalitätenhaß“ - und nichts passiert. Aber hier war es, wie jetzt auf allen politischen Versammlungen: die Masken fallen.

Interview: Barbara Kerneck