Heiermann in Vegas

■ Eine Selbstuntersuchung zum Automatenspiel

Eines schönen Nachmittags im Frühling überschreite ich die Schwelle. So ähnlich, denke ich, geht man in die Peep-Show, ich möchte in diesem Moment nicht von Freunden oder Bekannten überrascht werden. Der Kopf ist leicht nach unten geneigt, schnell durch die Tür, als habe man etwas hinter sich zu bringen, dann hat mich der imaginäre Raum der Glückserwartung verschluckt, nicht zum letztenmal. Ich habe mich einer Art soziologischer Selbstbeobachtung unterzogen und mir das Automatenspielen beigebracht.

Von Harry Nutt

Es ist nicht schwer zu erlernen, auch wenn Menschen, auf deren Bildung etwas Zeit und Mühe verwandt worden ist, in einer Art instinktiver Abwehrhaltung wiederholt behaupten, sie seien zu dumm, die Technik zu verstehen, sie wüßten nicht einmal, wann man wo an welchem Knopf drücken muß. Zur Not spielt das Gerät allein. Etwas Übung kann jedoch helfen, man kann ungeschickt sein. Wenn es in schrägen Tönen fiepst und aufdringlich blinkt, hat man zumeist einen Kleingewinn erzielt, den man sofort wieder aufs Spiel setzen kann: Risiko, der eigentliche Gedanke des Spiels. Auf der Risikoleiter kann man abstürzen oder sich hocharbeiten, allerdings nicht bis zum absoluten Hauptgewinn. Den nämlich spielt einem das Schicksal in Form einer von der Elektronik vorausberechneten Gewinnkombination ein. Für einhundert Sonder-, Multi-, Sesam-, Hit- oder Topspiele kann man nichts tun, nur der Zufall ist so gnädig.

Die Spielhallen der Stadt sind gut besucht. Eines Nachmittags finde ich in drei Hallen hintereinander kein freies Gerät, erst in der vierten Örtlichkeit darf ich spielen. Ist der Blick erst einmal geschult, findet man in einer belebten Geschäftsstraße rasch Ersatz. In einem fremden Stadtteil blinken sie mich an, sobald ich aus dem U -Bahn-Ausgang komme, die Lichterketten und Spiegelwände der Schaufenster pleitegegangener Einzelhandelsgeschäfte und Läden.

So sehr die Signale auch werben, blankgeputzte Spiegel oder mit bunten Plastikfolien zugeklebte Scheiben verwehren den neugierigen Blick nach innen. Die Schaufenster zeigen nichts, sie haben nichts zu zeigen. Alles spielt sich drinnen ab, in den Hallen, in der Elektronik, in der Imagination der Spieler, das macht Einblicke so schwer. Das Verwehren des Einblicks von draußen hat auch seinen praktischen Grund, die Spieler möchten bei ihrem selbstbezogenen Tun nicht beobachtet werden. Man spielt allein, Gesellschaft ist eher störend, diese Selbstbeschäftigung umhüllt ein Tabu. Aber was gäbe es von draußen auch zu sehen? Nichts am Automatenspiel ist verlockend, ehe man nicht die Sphäre des Spiels betreten hat. Viele Spielhallenschaufenster werben mit ausrangierten Automaten, bisweilen unglücklich neben eine Hydrokulturpflanze plaziert; doch abgeschaltet, ohne Blinken, Surren und Fiepsen ist das Gerät bar jeder verführerischen Attraktivität. Im Schaufenster sieht ein Geldspielautomat nach dem aus, was er ist: ein schmuckloser Kasten mit einer geschmacklos bedruckten Glasscheibe und Knöpfen. Eine abgenabelte „Daddelkiste“ strahlt nichts aus als öde Tristesse.

Die hilflosen Gestaltungsversuche der Spielhallenbetreiber tragen den Charme des Dilettantismus. Fast nirgendwo waren geschickte Werbestrategen am Werk. Es ist eine junge Branche, viele Spielhallen werden betrieben wie Imbißbuden, man braucht nur eine Lizenz dazu, auf dem Markt herrscht eine hohe Fluktuation, Pleiten und Neueröffnungen sind an der Tagesordnung. Professioneller gehen die organisierten Spielhallenketten vor. Sie haben ein einheitliches Erscheinungsbild, das schon von außen zu erkennen ist. Wer sich in einer „King-Play„-Halle wohlfühlt, der fühlt sich in allen „King-Play„-Hallen wohl. Die Ikonographie des Ortes selbst leistet kaum Verführungsarbeit. Wer den Ort nicht sucht, wird auch nicht hineingezogen. Die Lichterketten locken nicht an, allenfalls haben sie Signalcharakter mit Wiedererkennungswert. Wer die Schwelle übertreten hat, ist von der Außenwelt verschluckt. Eine Spielhalle ist ein Nicht -Ort.

Dennoch wird man drinnen nicht von einem mysteriösen Moloch verschluckt. Die Inneneinrichtung wirkt bieder, geschmacksneutral. Der Gesetzgeber schreibt vor, daß pro fünfzehn Quadratmeter nur ein Gerät mit Gewinnmöglichkeit aufgestellt sein darf, maximal pro Halle jedoch nur zehn Geräte. Deshalb sind viele Spielhallen noch einmal in weitere Hallen unterteilt, mit separaten Eingängen. Das Gesetz zwingt den Spielhallen ihren Bordellcharakter auf. Man spielt im Separee. Die Atmosphäre ist gedämpft, schlichte Teppichböden vermitteln einen gepflegten Eindruck und Ruhe. Alle Aura geht vom Automaten aus. An holzgetäfelten oder furnierten Wänden hängen nicht selten Spiegel, die Sorte, die kleine Verschenkboutiquen anbieten, mit Jugendstilwerbung und ähnlichem. Die Spiegel sind jedoch so angebracht, daß man sich nicht selbst in ihnen sehen kann. Vor dem Gerät soll der Spieler nicht an sich erinnert werden. Nur schemenhaft spiegelt sich sein Gesicht in der Glasplatte des Apparats. Einmal sitze ich vor einem Gerät, über das ein dreiteiliger Spiegel mit einer liegenden nackten Frau als Abbildung angebracht ist. Alle Erotisierungsversuche aber scheinen hier fehlzuschlagen. Die Kraft der Verführung, hat man erst einmal seinen „Heiermann“ in den Schlitz geworfen, geht von den rotierenden Scheiben und Walzen aus.

Die Spielhallen gleichen sich mehr oder weniger in ihren Einrichtungen, trotzdem bemerke ich, daß ich mit wachsender Versuchsdauer immer häufiger in bestimmte Hallen zurückkomme. Es gibt keine Beliebigkeit, selbst für bestimmte Gerätetypen entwickelt man Vorlieben, die jedoch wechseln können. Mal spiele ich an Rollenautomaten, ein anderes Mal neige ich zu Rotationsscheiben. Ich kann nicht behaupten, daß ich den Aufenthalt in einer Spielhalle unangenehm oder gar abstoßend finde. Man ist abgetaucht aus der Wirklichkeit, kein Telefonklingeln, keine zielgerichtete Kommunikation. Das Personal, das die Hallen beaufsichtigt, ist rücksichtsvoll, es hält sich im Hintergrund und greift erst ein, wenn ein Spieler sich nicht mehr kontrollieren kann und mit den Fäusten gegen das stabile Gehäuse des Automaten hämmert. Der Überschuß an Geräuschen und Signalen ist aufdringlich, aber sie haben keine Bedeutung, die über das Spiel hinausgeht. Die Spielhallen fressen nicht nur Geld, das wird mir klar, als ich einmal erst nach zwei Stunden wieder auf die Straße trete. Das Automatenspiel kostet Zeit, Aufmerksamkeit und Nerven. Es ist, als käme man aus dem Kino, einem Experimentalfilm über Lichtreflexe.

Soziologisch gesehen stammen die Spieler aus den unteren Schichten. Bekanntlich stellen Arbeitslose und junge Erwachsene - der Zutritt unter 18 Jahren ist verboten und wird, wie ich mehrfach erlebt habe, über wacht - einen hohen Spieleranteil. Es gibt aber auch die Feierabend- oder Pausenspieler, die am Gerät „weiterarbeiten“. In Berlin, so hat meine Beobachtung ergeben, sind es in großer Zahl Türken, die ihre Zeit so verbringen. Sie spielen häufig in Gruppen an mehreren Geräten gleichzeitig. Während ich in stoischer Gleichgültigkeit auf meine Chance warte, versuchen sie aktiv den Apparat zu beeinflussen. Sie stehen im Kampf mit der Maschine, sie stellt für sie eine Herausforderung dar. Gerade bei türkischen Automatenspielern habe ich eine große Bereitschaft beobachtet, erzielte Gewinne wieder auf der Risikoleiter zu opfern, um die höchstmögliche Gewinnstufe zu erreichen.

Staunend sah ich in meiner ersten Spielphase einen jungen, unscheinbar wirkenden Spieler in gut drei Meter Abstand vor fünf laufenden Geräten sitzen. Er saß nicht, er thronte, alle Automaten liefen nur für ihn, er regte sich nicht, er wartete ab. Die Risikotaste war auf Automatik gestellt, so daß er sich nicht aus seinem Sessel erheben mußte, ehe ein Gerät nicht in den Sonderspielbereich hineingelaufen war. War dies aber der Fall, bewegte er sich ruhig, fast gelassen trat er dem blinkenden Kasten gegenüber. Er bediente nicht die Funktionen des Apparates, es sah aus, als befehlige er Ausgeburten der Technik. Seine majestätische Haltung stand einer Vielzahl nervöse Zappelphilippe gegenüber.

Es gibt unter den Spielern Profis und Amateure, Siegertypen und Opfer. Die Spielhaltung der Siegertypen strahlt Selbstbewußtsein aus, während andere ihr Verliererdasein am Gerät noch einmal bestätigt bekommen. Einem Siegertypen begegne ich eines Vormittags in einer Spielhalle in Kreuzberg. Er ist Kurde und arbeitet abends in einem Kebabimbiß, nicht weit von der Spielhalle entfernt. Die Halle ist fast leer, er sieht sich kurz um und wirkt auf mich wie ein Jäger auf der Suche nach Beute. Sein abfälliger Blick trifft mich, er erkennt mich als Amateur, der die Geräte füttert, die er plündern wird. An der Kasse wechselt er einen Hundertmarkschein in zwanzig Fünfmarkstücke und wirft sechs davon in sechs verschiedene Automaten. Ein Fünfmarkstück ist in der Spielhalle nur ein Spielchip, das seinen realen Gegenwert erst draußen wieder erhält. Ich bin erschrocken, wie achtlos er die Münzen in die Automaten wirft. Diese Geste ist halb Verachtung, halb Triumph über die Schwere des Seins. Schnell und gewandt springt er zwischen den Automaten hin und her, wenn sie mit ihrer nervtötenden Akustik einen Gewinn signalisieren. Binnen weniger Minuten hat er alle sechs Automaten, an denen er spielt, auf vierzig oder fünfzig Sonderspiele hochgedrückt. Es sieht aus, als horche er vorher in das Gerät hinein, anstatt wie ich dumpf auf die Tasten zu drücken. Bisher hatte ich geglaubt, daß die Automaten nur das hergeben, was die Elektronik ihnen vorschreibt. Dieser Spieler scheint mich zu lehren, daß man im Kampf mit der Maschine Sieger sein kann - ein fataler Gedanke.

Die Illusion, die Technik bezwingen zu können, speist eine vielschichtige Spielermythologie. Es gibt Theorien und Erzählungen über die Funktionsweise der Geräte; die Spieler leisten hier unaufhörlich Phantasiearbeit. „Du muß nur den Zeitpunkt erwischen“, sagt mir ein Spieler am Nebengerät, „dann läuft er hoch, ohne sich zu wehren. Wenn der 'Nova‘ auf dem Lauf ist, dann gibt der alles her, dann spuckt der wie krank, er kann gar nicht anders.“ Jede Gerätemarke hat so etwas wie eine eigene Individualität. „Der 'Windsor‘ bescheißt einen“, weiß ein Spieler, den ich häufiger treffe, „wochenlang gibt der keine Multispiele, immer nur zwei oder vier Sonderspiele, und wenn du zweihundert Mark hineingeworfen hast.“ Über die unterschiedliche Zahlungsmoral der Geräte haben die Spieler ebenso ihre Theorien wie über die Möglichkeiten, sie „auf den Lauf“ zu bringen. Obwohl die Geräte sechzig Prozent ihrer Einnahmen wieder ausspucken müssen, kann es Tage dauern, bis ein Automat „freigebig“ ist. Wer jedoch überprüft die Geldausgabe? Es kann leicht passieren, daß mehr als hundert Mark in zwei, drei Stunden ohne merklichen Rückgewinn in die Daddelkisten wandern.

Beim Daddeln habe ich auch Bernhard kennengelernt. Er ist um die sechzig und spielt seit mehr als zwanzig Jahren am Automaten. Er hat verschiedene Entwicklungsphasen der Geräte durchgemacht. Seine Erinnerung sagt ihm, daß man früher mehr Chancen gehabt habe. Heute werde man betrogen; ehe einmal ein Hauptgewinn einläuft, seien schon die Taschen leer. Die meisten Spieler haben eine Verschwörungstheorie, nach der sie systematisch ausgenommen werden; das hindert sie nicht, weiterzuspielen. Bernhard befolgt derzeit ein privates Disziplinierungsprogramm. Er kommt täglich nur noch mit zwanzig Mark in die Spielhalle, wo er von den Stammgästen mit einem freundlichen „Hallo“ begrüßt wird. Seine Selbstbetrugsrechnung macht er so auf: „Fünf Mark sind Eintritt, fünf Mark kostet der Kaffee, bleiben zehn Mark zum Spielen; wenn es klappt, ist es gut, wenn nicht, gehe ich eben wieder.“ An diesem Nachmittag bleibt er zwei Stunden, um mir seine Geschichte zu erzählen. Er hat in mir einen aufmerksamen Zuhörer, der nebenbei gut achtzig Mark verdaddelt. Kurz bevor ich gehen will, spuckt das Gerät noch einmal. Etwas mehr als vierzig Mark gewinne ich zurück. „Ein bißchen Verlust ist immer“, sagt Bernhard.

Als Zwischenergebnis meiner Untersuchung möchte ich festhalten: Die vielfach beschriebene Stupidität und Monotonie des Automatenspiels gilt nur bei der Betrachtung des Spiels von außen. Es gibt nichts zu beschönigen. Alle Auswirkungen wie Spielsucht und andere Krankheitssymptome in meiner ersten Spielphase reagiere ich leicht gereizt und schlafe nachts schlecht - sind ernst zu nehmen. Die Diagnose „Spielgeräte machen süchtig“ kann ich bestätigen. Ich neige aber zu der Annahme, daß die Struktur und die Symbolik, die Sprache und die Funktionsweise des Automatenspiels ein adäquates Pendant in der gesellschaftlichen Realität haben muß, auf das die Lust zum Spielen reagiert. Am Automat erfährt der Spieler ein Stück Wirklichkeit: Es wird ihm die Erfahrung der Niederlage und des Verlustes, auch des Triumphes vorgeführt, reduziert auf die Möglichkeit von Ja oder Nein. Es gibt keine Zwischentöne. Die Spielhallen haben ihre Stammkundschaft. Zum Inventar eines Etablissements am Kottbusser Damm gehört Maria. Sie ist über fünfzig, ihre Gesichtszüge verraten fortgeschrittenen Alkoholismus, spielsüchtig ist sie auch. Nervös sitzt sie vor dem Apparat, als halte sie sich an den Knöpfen fest. Sie ist kein Siegertyp, sie ist Opfer. Sie drückt häufig im falschen Moment auf die Risikotastatur. Manchmal gelingt es auch Maria, einen Gewinn hochzudrücken. Einmal steht sie hilflos vor der Entscheidung, vierzig Sonderspiele anzunehmen oder fünfig Hitspiele - das sind solche, bei denen nach einem Nichtgewinn im Sonderspielbereich die Rolle noch einmal nachstartet - zu riskieren. Ich rate ihr anzunehmen, das ist Geld zum Weiterspielen, immerhin. Sie blickt, dankbar für meine Einmischung, auf. Jaja, das sei vernünftig, murmelt sie, man müsse vernünftig sein, sonst habe man sowieso keine Chance.

Der Traum eines Spielers ist, mehrere Geräte gleichzeitig zum „Singen und Spucken“ zu bringen, ein Exzeß an Signalen, ein Klingeln und Rauschen, im Raum und im Kopf. Mein Vorhaben, in meiner Versuchsanordnung kontrolliert zu spielen, schlägt einige Male fehl. Ich stecke die Kontrollverluste mit einer depressiven Grundstimmung weg. Es ist wie ein Akt der Befreiung, als ich eines Nachmittags von Spielhalle zu Spielhalle gehe, nicht um zu spielen, sondern um sie zu fotografieren. Ich habe das Gefühl, es mit dieser Dokumentation einem Peiniger heimzuzahlen. Ich weiß nicht, ob ich die Verführung des Automatenspiels nun besser verstehe. Ich weiß aber, daß man sie nicht begreifen kann, wenn man nicht selber davorgesessen hat.