Polen geht seine Tabus an

■ Das Lager Lambsdorf und die Schlesier-Vertreibung wird in Polen zum Thema / Nach dem Krieg war es Übergangslager für Schlesier

Aus Warschau Klaus Bachmann

Bisher war es fast nur bei Aussiedlern und bundesdeutschen Historikern bekannt, nun ist es auch in Polen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt: Das Übergangslager Lambsdorf bei Oppeln, wo nach dem Krieg Tausende von Schlesiern, Polen und Deutschen gefangengehalten, gefoltert und ausgehungert wurden. Lagerleiter war Czeslaw Geborski, der als kommunistischer Partisan von der SS in ein KZ eingesperrt worden und nach seiner Befreiung in die neue polnische Geheimpolizei eingetreten war. Daß er, wie ehemalige Häftlinge behaupten, eine Barracke anzündete und die fliehenden Häftlinge zu Dutzenden zusammenschießen ließ, wurde ihm beinahe zum Verhängnis. Doch ein Gericht sprach ihn „der besonderen Umstände wegen“ frei. Heute lebt er, angeblich unter anderem Namen, in Katowice als Rentner.

Das Thema galt lange als Tabu. Nicht nur, weil diese Fakten mit der jahrzehntelang gepflegten Darstellung von einer „humanen Aussiedlung“ kaum in Einklang zu bringen sind, sondern auch, weil sie die Antwort geben auf die Frage, warum sich nach dem Krieg so viele Schlesier, die teilweise sogar als polnische Patrioten an den Schlesischen Aufständen teilgenommen hatten, von Polen abwandten und in die Bundesrepublik auswanderten.

In zwei langen Artikeln in der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung 'Tygodnik Powszechny‘ versuchte der junge Oppelner Historiker Jacek Ruszczewski in den vergangenen Wochen, seinen Landsleuten nahezubringen, warum. Die Schlesier seien unmittelbar nach dem Krieg von den neuen Herren in Schlesien, der Roten Armee, dem Geheimdienst der Kommunisten, den Verifizierungskommissionen, die sie alle mit Polen schlechthin gleichgesetzt hätten, als Nazis behandelt worden, ohne Ansehen der Person. Fazit: Viele polnische Patrioten fanden sich zusammen mit Kriegsverbrechern, wirklichen Kollaborateuren und unpolitischen Schlesiern, die in die Mühlen der Geheimpolizei geraten waren, in den Arbeitslagern wieder, die zuvor der SS als Konzentrationslager gedient hatten. Andere mußten sich, wollten sie nicht ausgesiedelt werden, vor den sogenannten Verifizierungskommissionen auf ihr Polentum durchleuchten lassen. Ruszczewski zufolge wurde in vielen Fällen gedroht, wer sich als Deutscher bekenne, werde entweder nach Deutschland oder nach Zentralpolen ausgesiedelt. Viele der überwiegend zweisprachigen Bewohner Oberschlesiens bekannten sich daher zu Polen, um in Schlesien bleiben zu können, woraus bis heute in Polen das Argument abgeleitet wird, es gebe keine Deutschen mehr. Ruszczewski: „In erster Linie sind alle erstmal Schlesier.“ Aber die Nachkriegsbehandlung und die kommunistische Dauerregierung hätten den Schlesiern „ihre polnischen Traditionen einfach ausgetrieben.“ Für den jungen Historiker sind die schlesischen Aufstände nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur patriotische Ausbrüche und nationale Heldentaten, sondern vor allem eine Tragödie: Schlesier kämpften gegen Schlesier. „Politische Pornographie“ sei das, entrüstete sich die kommunistische Wochenzeitung 'Argumenty‘, „ganz als hätte man es aus dem revisionistischen Wochenblatt 'Der Schlesier‘ abgeschrieben.“

Doch Rusczewski ist inzwischen nicht mehr allein. So hat der Warschauer Nowa-Verlag eine Übersetzung von Christian Graf von Krokows Zeit der Frauen vorgelegt, „gerade auch weil darin einige drastische Schilderungen der Vertreibung vorkommen“, wie ein Mitglied der Verlagsleitung sagte. In der Lokalzeitung 'Trybuna Opolska‘ in Oppeln bat ein Journalist um Meldungen ehemaliger Häftlinge, um sie zu interviewen. Das Echo war umwerfend, denn immer noch leben ehemalige Insassen, die sogar nach Auflösung des Lagers in Polen blieben. Die „Hauptkommission zur Erforschung von Naziverbrechen“ ist inzwischen umbenannt worden, sie erforscht nun auch „stalinistische Verbrechen“. In Oppeln erzählt man sich bereits, Geborski werde wohl demnächst bald wieder vor Gericht stehen...