Späte Ehrungen

 ■ Das 27.Karlsbader Filmfestival, das erste nach der „Sanften

Revolution“

Von Roland Rust

Anders als ihre Nachbarn Polen und Ungarn, die noch immer Anschluß an die Moderne wahren konnten, geriet die Kinematographie in der Tschechoslowakei seit nunmehr zwei Jahrzehnten quasi zur terra incognita: Mit der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 brach Totalfinsternis über einer der vitalsten und farbigsten Filmkulturen des Kontinents herein. Die Zeit des real-existierenden Etikettenschwindels lief erst im Herbst letzten Jahres ab, die Schauspieler wurden zu Wortführern der „sanften Revolution“. Seitdem ist das Land in Bewegung geraten, machen die ehedem vom Schock Paralysierten sich auf den Weg, wenn auch über das wohin - Marktwirtschaft hie, Reformsozialismus da - noch keineswegs einig.

Das in der Vergangenheit vom offiziösen Gebaren der Kultur -Oberen reichlich heruntergewirtschaftete und korrumpierte Internationale Filmfestival von Karlovy Vary (Karlsbad) neben Moskau das einzige A-Festival des Ostblocks - unterzog sich ad fontes einer Radikalkur. Unter Verzicht auf Glamour und Stars bot es dem heimischen Filmschaffen ein bis dato einmaliges Podium. Herzstück der außerordentlich umfangreichen Präsentation waren Werke der tschechoslowakischen Nouvelle Vogue der sechziger Jahre. Im Gefolge der Tauwetterperiode machte eine ganze Generation junger Enthusiasten die Prager Filmschule FAMU zu einem der kreativsten melting pots, der die einst heiligen Schablonen des „sozialistischen Realismus“ lustvoll entweihte. Daneben boten die munter aus dem Boden sprießenden Kleinsttheater, wie das legendäre SEMAFOR, den avantgardistischen Jüngern Samsas und Schweijks ein ideales Sprungbrett. Das riesige Barrandow-Studio bei Prag avancierte zum bestausgestatteten des Ostblocks, die technisch und organisatorisch exzellent gerüstete Filmindustrie schraubte die Jahresproduktion auf über vierzig Spielfilme (bei kaum 14 Millionen Einwohnern), die einen Festivalpreis nach dem anderen kassierten. Jiri Menzels Liebe nach Fahrplan brachte es 1968 bis zu Oscar -Ehren.

Die kurze Blütezeit des Prager Frühlings fand mit der eisernen Umarmung des „verbündeten“ big brother ein eiskaltes Ende. Die kreativen Produktionsgruppen wurden aufgehoben, der Generaldirektor der Kinematographie gefeuert und der gesamte Verband der Film- und Fernsehschaffenden liquidiert. Die Zeit der „Normalisierung“ ließ künstlerisch ambitionierten Aktivitäten kaum noch Entfaltungs- und Spielraum.

Erst die kürzliche Öffnung der Tresore rückte das schon fast in Vergessenheit geratene Phänomen nachhaltig ins Gedächtnis. Festivallorbeeren wie für den diesjährigen Berlinale-Hit Lerchen am Faden (1969; Regie: Menzel) brachten den lange Verfemten eine späte Ehrung. Das Karlsbader Festival versammelte noch einmal alle einst verbotenen Werke, von Evald Schorms apokalyptischen Der siebente Tag, die achte Nacht bis zu Zdenek Sirovys Trauerfeier. Erst in diesem Jahr durfte Hynek Bocan seinen 1969/70 begonnenen Jugendknast-Film - seinerzeit ein hundertprozentiges Tabu - beenden. In dokumentarischer Authentizität und harter Schwarz-Weiß-Ausleuchtung wird ein halbwüchsiger „Neuer“ Opfer kollektiver Zornausbrüche und haßerfüllter Eruptionen.

Im vorigen Jahr drehte Juraj Jakubisko, prominentester slowakischer Regisseur, mit Ich sitze auf einem Ast das Remake seines verschollen geglaubten Films Vögel, Waisen und Narren (1969), von dem nun doch noch unverhofft eine Kopie aus französischen Archiven auftauchte, und der nun mit zwanzig Jahren Verspätung seine Premiere erlebte. Der Streifen kann als die definitive Autobiographie der 68er Generation und ihrer verzweifelten Resistenzversuche gegen die „Normalisierung“ gelten, als playing mad and acting strange zur einzig verfügbaren Freiheitsdroge wurden. Jakubisko durfte darauf, wie die meisten seiner Kollegen, jahrelang keinen weiteren Spielfilm realisieren. Er hielt sich mit Werbe- und Industriefilmen über Wasser, ironischerweise teilten viele seiner ins Exil getriebenen Mitstreiter dieses Schicksal. Nur wenigen, Paradeexempel Milos Forman, geriet der Sprung ins kalte Wasser zur neuen Karriere. Es war das eigentliche Ereignis des Karlsbader Festivals, den außer Landes Gejagten wieder Heimatrecht einzuräumen.

Vojtech Jasny (derzeit Kanada) mit The Great Land of Small, Jana Bokova (mittlerweile eine der großen Hoffungen des britischen Dok-Films) mit Havana, Otakar Votocek (Holland) mit Wings of Fame, Pavel Kohout (Wien) mit dem Remake des verbotenen Kachyna-Films Das Ohr konnten in Karlsbad ihre im Ausland entstandenen Werke erstmals den Ex -Landsleuten vorstellen. Unmittelbar nach Öffnung der Grenzen kehrte der seit seiner Emigration in Frankfurt/Main lebende Ivan Fila nach Prag zurück, um in Co-Produktion ECCO -Film Berlin und Kratky-Film Schritte im Labyrinth zu drehen, ein Mosaik des Exils: des inneren Exils der im Lande Gebliebenen (der jetzige Außenminister Jiri Dienstbier, der das Gefängnis der Emigration vorzog), des aufgezwungenen derer, denen die Rückkehr verweigert wurde (der Liedermacher Jaroslaw Huta, der demnächst wieder zurückgehen wird) sowie derer, denen das Exil zur Wahlheimat wurde (Pavel Kohout in Wien).

Das Jahr 1968 sprengte selbst das unzertrennliche Regiepaar Jan Kadar und Elmar Klos, die Schöpfer des ersten tschechischen Oscar-Films Das Geschäft an der Hauptstraße (1965). Klos blieb in Prag, um den Preis, keinen weiteren Film mehr realisieren zu können und seine Lehrtätigkeit an der FAMU aufzugeben. Kadar ging in die USA und drehte mit der Hauptdarstellerin des Oscar-Films Ida Kaminska die Malamud-Adaption The Angel Levine.

Dem Andenken Pavel Juraceks (gest. 1989) und Evald Schorms (gest. 1988) widmete Antonin Masa seinen Film Waren das wir?, auf dessen Drehgenehmigung er zehn Jahre warten mußte. Dieser erste unter freien Bedingungen der CSFR Anfang dieses Jahres entstandene Film attackiert schonungslos die Deformation einer etablierten Theatertruppe - ein unmißverständliches Spiegelbild einer an den Abgrund geratenen Gesellschaft. Die thematische Brisanz verhalf dem Streifen, trotz offenkundiger ästhetischer Dürre, zum Preis der Wettbewerbsjury unter Vorsitz des Altmeisters Lindsay Anderson (mit dabei auch Berlinale-de Hadeln). In Ermangelung preiswürdiger Werke behalf sich die Jury und vergab den Grand Prix kollektiv an all jene verfolgten, verbotenen und ins Exil getriebenen Filmemacher.

Die konfuse Situation der Filmschaffenden am Wendepunkt ihres Landes brachte Jiri Menzel auf den Punkt: In einem Moment, wo nach über zwanzig Jahren plötzlich alle Möglichkeiten offen stehen, könne er sich für kein Filmprojekt entscheiden! Nicht viel Bedenkzeit wird der tschechoslowakischen Filmindustrie beim Übergang in neue Wirtschaftsformen bleiben, so denn überhaupt der Erhalt einer nationalen Filmkultur realistisch erscheint. Ohne staatliche Subventionen wird es auch künftig nicht gehen, doch sollen diese, gemäß Empfehlungen der Filmkammer, projektbezogen vergeben werden. Administrative Entscheidungsgremien sollen abgebaut werden, die bisherige Zentraldirektion noch bis Ende dieses Jahres aufgelöst sein.

Insgesamt wird die Entstaatlichung und Reprivatisierung der Filmwirtschaft angestrebt, allerdings steht die Entscheidung über das neue Eigentumsgesetz noch aus. Fest steht, daß die neuen Rahmenbedingungen nur greifen können, wenn sie auf ausreichend künstlerisches Potential treffen. Diesen Beweis blieb Karlsbad schuldig.

Auch das Festival selbst ist gefährdet. Die Moskauer wollen den zweijährigen Turnus mit Karlsbad aufgeben und ihr Festival jährlich veranstalten. Die Tschechoslowaken müßten also ebenfalls in den Jahresrhythmus übergehen. Möglicherweise wird das Festival nach Prag verlegt.