Keine Entwarnung für Polens Westgrenze

■ Die Vertriebenenverbände haben ihre Taktik verfeinert

Die Vertriebenenverbände sind nicht „durchgeknallt“, sondern sie haben lediglich ihre Taktik den veränderten Umständen in Deutschland und Europa angepaßt. Natürlich ist die Forderung nach einem Wahlrecht für jene polnischen Staatsangehörigen, die einst Deutsche gewesen sind bzw. gewesen sein wollen, juristisch nicht haltbar. Denkbare Voraussetzungen für die Gewährung des Wahlrechts sind der dauerhafte Aufenthalt im Staatsgebiet (darum geht es bei der Kontroverse um das Ausländerwahlrecht) und die deutsche Staatsangehörigkeit. Keine dieser Voraussetzungen trifft auf die „deutschstämmigen“ Polen jenseits der Oder-Neiße-Linie zu.

Dennoch knüpft die vermessene Forderung der Vertriebenenverbände an geltende Prinzipien regierungsoffizieller Politik an. Diese hält bis heute an der letztlich völkischen Ideologie von der über Generationen weitergeltenden „Volkszugehörigkeit“ fest und räumt den „Deutschstämmigen“ damit einen gegenüber anderen Ausländern privilegierten Anspruch auf deutsche Staatszugehörigkeit (und damit das Wahlrecht) ein. Dies ist bislang noch an die Übersiedlung in deutsches Staatsgebiet gebunden. Die Forderung nach Wahlrecht für die in Polen lebenden ehemals Deutschen zielt auf die Ausdehnung des Wahlgebietes und damit des Staatsgebietes über die deutschen Grenzen hinaus. Sie lanciert in verdeckter Form die alte Forderung der Vertriebenenverbände nach Grenzrevision.

In dieselbe Richtung zielen Forderungen nach einer Volksabstimmung in den polnischen Westgebieten oder die Forderung nach einem „Niederlassungsrecht“ für die Vertriebenen (bzw. ihrer Kinder und Kindeskinder) in ihrer „ehemaligen Heimat“. Die Forderung nach Rückgabe enteigneten Eigentums wird - Lastenausgleich hin oder her - nicht lange auf sich warten lassen. Wie das geht, wird derzeit in der DDR vorexerziert. Letztlich zielt die Politik der Vertriebenenverbände bei Beibehaltung ihrer grundsätzlichen Position auf eine faktische Revision der politischen und sozialen Verhältnisse in den polnischen Westgebieten, auf eine latente Aushöhlung der Souveränität des polnischen Staates über einen Teil seines Staatsgebiets. Schon im Februar hat Vertriebenenpräsident Czaja eine „Bewegung des gewaltlosen, aber entschiedenen Revisionismus“ diesseits und jenseits der Oder-Neiße-Linie angekündigt. Die Voraussetzungen dafür haben sich mit der deutschen Vereinigung verbessert. Also: Keine Entwarnung für die politische Westgrenze.

Martin Kempe