In der Nacht ist aller Osten bunt

■ Wie der Westler in der Ostnacht lebt

Als Westler versucht man, in der Nacht ohne Uhr am Verkehrsaufkommen die Zeit abzulesen, und liegt im Osten immer falsch, weil man westlich konditioniert ist. Im Westteil der Stadt gibt es erst gegen drei oder vier Uhr kurze Atempausen, in denen sich die blöden Autos kurz hinlegen. Im Ostteil ist es ab Mitternacht angenehm ruhig wie in einer Kleinstadt. So heben sich die nächtlichen Gestalten in den Kneipen, Cafes oder Diskos, die jetzt noch aufhaben, heroisch ab von den anderen, die sich jetzt im Schlaf wiegen und wälzen.

Ein Organisator von der Filmbühne Friedrichshain berichtet, daß die Normalbürger wegen der Preise - wenn man 1:1 rechnet, sind die durchschnittlich um das 5fache gestiegen nicht mehr rausgehen würden. Sitzen wohl statt dessen in ihren Wohnungen mit ihren neuen Videorecordern und gucken sich hübsch Pornos an.

Ein paar gemischte Gestalten sitzen draußen gegenüber vom „Babylon„-Kino. Drinnen, im „Cafe 29“ respektive „Jugendclub 29“, umplätschert Musik die Gespräche der Gruppen an den Tischen, die durch den Raum schwirren. Das Cafe hat die klassische Schlauchform. Hinten spielen ab und an Bands. Oder Videos. In der Woche, ab halb eins, rücken alle, die noch da sind, enger zusammen und sammeln sich vorne an der Theke. Über der Theke schauen Pappmachemonsterköpfe auf die letzten freundlichen Trinker. Das erste Weizenbier hatte noch drei Mark gekostet, das zweite gab's schon für zwei und das dritte Bier kostete nur noch einsfünfzig. Die CafemacherInnen haben es geschafft, dem Kapitalismus, wenn's denn im Kapitalismus um flexible Preisgestaltungen zum Wohle der Konsumenten geht, ein freundliches Antlitz zu geben. Ab und an schaut eher unengagiert ein barfüßiger taz -Handverkäufer vorbei. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht „Haß“. Manchmal trifft ein taz-Handverkäufer den anderen. Dann setzen sie sich nebeneinander.

Ostler sind wahrscheinlich an ihren „Club„-Zigaretten zu erkennen. Über Politik redet nur noch ein betrunkener Mann an der Theke; daß Kohl ja gar nicht mehr die Armee zur Eroberung Europas bräuchte. Das würde schon das Geld besorgen. Und macht Geldzählbewegungen. Sein junger Nebenmann verdrückt sich angewidert. Auf der Toilette steht: „Skins: Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, dumm wie Stulle“. „Dumm wie Stulle“ ist in seinem weichen Charme so ungefähr das Beste, was ich in den letzten Monaten gelesen habe.

Ich ziehe weiter durch die Innenstadt in die Tucholskystraße 30. An vielen Stellen sind die Straßen aufgerissen. Die Gedärme der Stadt starren in die Nacht. Die Leiche wird ausgeweidet. Auf den Fensterläden der Bar steht „22 2“. Zuerst dachte ich, das wäre die Hausnummer. Sind aber nur die Öffnungszeiten. Drinnen stehen große Steine. Auf die kann man sich setzen, wenn man will. Ein Hund läuft kleineren Steinen hinterher und bringt sie zurück. In karger Aufrichtigkeit steht an der Bar ein Ghettoblaster. Zwei Westgirls fragen, wo denn der „Sophienclub“ sei.

Der „Sophienclub“ liegt in der Sophienstraße 6. Am Eingang der Diskokneipe tanzen welche, wenn welche tanzen. Über der Bar hängt ein Honecker-Porträt. Man hat offensichtlich investiert; in gute große Boxen, in „Beck's„-Biergläser, in neue Stühle und in einen großen modernen Ventilator. An den Wänden hängen ein paar schlechte Bilder. Gegenüber der Bar steht „Nazis raus“. Vermutlich hat das der Manager rangeschrieben. Alle paar Tage spielen hier der „gelbe Wahnfried“ (bekannt von den Leserbriefseiten in 'blatt‘, 'Eulenspiegel‘ etc.) oder andere, oder es ist einfach, besser: in der Musikzusammenstellung ziemlich professionell, Disko, oder es gibt Vortrag: „Ägypten und Barbetrieb“.

Im Mai wurde in der Oranienburger Straße das „Zapata“ eröffnet, Kneipe und Cafe des besetzten Kunst- und Kulturzentrums „Tacheles“. Die Tacheleskultur, Konzerte, Vernissagen, Theater usw., eine Kultur, bei der alles möglich sein soll und vieles bislang möglich ist, beschränkt sich im Moment auf die Räume des Cafes. An den Wänden der ehemaligen Garage hängen drei expressive Gemälde und verkünden die Schlüsselwörter des Hauses: „Haß“, „Sex“, „Love“. „Love“ und „Haß“ sind irgendwann, aus welchen Erwägungen auch immer, verschwunden. Es bleibt der Körper oder der Ausdruck von Edward Munchs Schrei auf einer nackten Holzfigur. Im Werkstattdurcheinander hängen andere bunt-wilde Bilder und ein paar freundliche Penck -Strichmännchen. Manchmal streikt die Küche, weil zu viele Freunde von Freunden umsonst durchgefüttert werden.

Auf den allwöchentlich stattfindenden Plena einigt man sich. Ein Teil der etwa zwanzig Stammbesetzer und vierzig helfenden Durchreisender kommt aus England, Australien, USA usw. Es sei schon etwas anderes als mit den Westberliner Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, erzählt Thomas. Denn es ginge nicht in erster Linie ums Wohnen, sondern darum, eine Verbindung zwischen Kunstmachen und Leben, Wohnen etc. herzustellen. Künstler kommen ein paar Tage, machen Kunst, arbeiten, essen und schlafen in dem Gebäudekomplex, gehen wieder, andere kommen. Die zwei Südamerikaner, die da vorne so schön und melancholisch Akkordeon spielen, hat er beim Zoo aufgegabelt. Wer was hat, gibt ihnen was. Das ist auch nicht weniger, als sie auf der Straße verdienen würden. Einen Tag werden sie hier bleiben.

Es gibt kaum einen Ort, wo soviel gelächelt wird. Wenn man im „Zapata“ sitzt und wartet, passiert immer irgendwas. Plötzlich geht zum Beispiel das Licht aus. Und geht wieder an. Jemand stolpert über irgendwelche Kabel, und der Mann hinter dem Mischpult ist sehr böse, und das Licht geht wieder aus und an, und dann beginnen Theaterszenenfetzchen, und die jungen Schauspieler werden verfolgt von kleinen Mißgeschicken. Besonders schön singt ein Ost-Teenie-Mädchen das Lied von der Seeräuberjenny. Ab und zu kichert sie verloren los vor Lampenfieber und hört plötzlich auf, weil sie ihren Text vergessen hat. Dann rennt sie raus in die Nacht mit rotem Kopf, und ihre Freunde rennen hinterher.

Zwar ist noch vieles in der Schwebe, doch eine Räumung droht dem „Tacheles“ bis jetzt nicht, wie fälschlicherweise gemeldet wurde. Und von den Neonazis, die das Kulturzentrum am 1. Juni überfallen hatten, habe man, momentan zumindest, nichts zu befürchten. „Wir sind wohl im Moment auch nicht die Ansprechpartner für die. Da haben die sich wohl auf ganz andere Ziele eingeschossen. - Vor kurzem waren welche da, die auf 'ne ganz merkwürdige Art ein offenes Gespräch suchten“, erzählt Thomas. So wird man in den nächsten hundert Jahren hoffentlich auch noch weiter seine Berliner Solibierchen trinken können. Schmecken besser als Schulli oder Kindl und machen mit satten 5 alc.vol.% schneller betrunken.

Die Nacht ist jung, und ich bin dabei. In der Greifswalder Straße 224 befindet sich der „Knaack-Club“. Die oberen Etagen sind ab zwölf geschlossen. Die Diskothek im Keller heißt „Darmwäsche“. Wieso, weiß keiner so recht. Sie „Arschfick“ oder „Fistfuck“ zu nennen, wäre vielleicht noch ein bißchen freundlicher gewesen. Die Kellerräume sehen so aus, wie man sich vorstellt, daß sich jemand vorstellt, daß so eine verruchte Drogenabsteige aussehen müßte. Rohbau. Heizungsrohre sind mit Alufolie oder buntem Kreppapier umwickelt. Der Steinboden ist uneben. In einer Ecke stehen zwei Flipper. Die sind aus. An der Theke gibt es kein Bier. Ham wir nich. Weil kein Bedarf bestanden hätte und Intellektuelle und Künstler vor allem Wein trinken würden, sagt der eine; damit die Leute nicht so schnell besoffen werden, sagt die andere, weil die Flaschen zu Bruch gehen würden, entschuldigt sich jemand drittes. Auf einem Schild steht: „Kein Bier!“

Also trinkt man Cola-Rum oder -Weinbrand oder -Whiskey, eben die komischen Dinge aus der Teenagerzeit, oder Gin Tonic oder in grandioser Verwirrung Lemon Tonic. Lemon Tonic! Zwischen 22 und vier Uhr ist alles so lustig und schön wie auf einer Teenagerparty. Wie im Cafe Westphal hängen auch hier ein paar Jungs herum, die sauber neue Autonomen-T-Shirts tragen mit peinlichen Texten wie: „Wir sind gegen Gewalt - Manchmal“.

„Lustige Erlebnisse?“ - die Türsteherin erwähnt „gröhlende Punks und kreischende Mädchen“. Gläserpfand muß wie an vielen anderen Orten entrichtet werden. Das stört nicht weiter, weil alles so merkwürdig interessant ist wie die Musik, die der Diskjockey da spielt; ein totales, unmotiviertes Durcheinander aus den letzten 25 Jahren Popgeschichte, und wahrscheinlich hört man auch nur noch in DDR-Diskotheken alte „Doors“ und sehr merkwürdig neu abgemischte Hits von „Ton Steine Scherben“.

Aber das wichtigste sind die Leute, am wichtigsten ist natürlich die wunderschöne Russin, die so schön tanzt und plötzlich dann fort war und davor noch gewinkt hatte. Das war sehr schade und furchtbar traurig, daß sie plötzlich fort war! Zu trinken kostet, glaub‘ ich, drei Mark. Besonders auffälliges Paarungsverhalten war nicht zu beobachten.

So besoffen ist man nicht am frühen Morgen, um nicht peinliche Entgleisungen sympathisierender Anarchisten, die an der Mauer und anderswo jedes A umkreisen müssen, auf dem Heimweg festzustellen. Das A in STASI hatte mich noch erheitert, das A in „Nie wieder BRAUN“ oder „NAZIS RAUS“ doch eher wütend gemacht. Wie viele andere, so scheinen auch die An-die-Wand-Maler politisch hochgradig verwirrt zu sein. Und bald kommt der fröhliche ADOLF mit seinen lustigen Jungs von der SA.

Detlef Kuhlbrodt

„Zapata“, Oranienburger Straße 56, Berlin 1040; jeden Tag außer Montag zwischen 18 und 3 Uhr.

„Sophienclub“, Sophienstraße 6, Berlin 1020; bis drei dabei, außer Donnerstag; siehe Veranstaltungsteil.

Kellerdisko „Darmwäsche“, Greifswalder Straße 224, Berlin 1055; jeden Tag zwischen 22 und 4 Uhr.

„Cafe 29“, Rosa-Luxemburg-Straße 29, Berlin 1020; außer Montag.