Bitte keine Hölderlin-Zitate mehr

■ Über eine deutsch-deutsche Anthologie

Es ist der Tag nach der Rückkunft Helmut Kohls aus Moskau. Gorbatschow hat die Zugehörigkeit des entstehenden, größeren Deutschlands zur Nato konzediert; ein Abzug der 380.000 sowjetischen Soldaten aus der DDR innerhalb von vier Jahren scheint ausgemachte Sache. An diesem Tag mache ich mich an die Arbeit, die erste Gemeinschaftsproduktion eines Verlags aus der Bundesrepublik und eines aus der DDR zu rezensieren, einen Band, der zuerst Hoffnung DDR heißen sollte und jetzt einen melancholischen Titel trägt: Nichts wird mehr so sein, wie es war. In dieser Anthologie, deren Beiträge im Februar geschrieben worden sind, lese ich Gregor Gysis Satz: „Die Forderung nach sofortiger Wiedervereinigung ist unseres Erachtens unrealistisch“. Ich lese aber vor allem und vom gleichen Autor: „Wenn namhafte Politiker im Westen erklären, ein einheitliches Deutschland sei für sie nicht denkbar außerhalb der Nato, dann ist der Eindruck nicht abwegig, daß die deutsche Einheit machtpolitisch herbeigeführt werden soll. Eine solche Lösung der deutschen Frage würde zu Recht auf den Widerstand der meisten anderen Völker stoßen.“ Macht es noch irgendeinen Sinn, solch einen Band zu rezensieren?

Ich könnte jetzt gerecht sein. Nicht nur Gregor Gysi hat sich geirrt, auch Klaus Hartung. „Die politische Aufgabe ist klar genug: Es gilt, die Kohlsche Politik des längeren Hebels zu brechen. Diese Politik bringt den Primat des Kapitalismus vor der Demokratie.“ Auch nicht gerade die Terminologie, mit der Kohl, der Instinkt-Schiffer auf heimtückischen Driften, gestoppt werden konnte. Aber was heißt schon Gerechtigkeit? Selbst wenn ich diese Tugend auf die Spitze triebe und die eigenen Irrtümer zitierte - die Hoffnung auf Katharsis wäre absurd. Die Facts of life sind so: Die Rechte hat regiert, und die Linke war uneinig und ungeführt. Aus der linken Schriftstellerei des ersten Halbjahres 1990 bleibt so ein einziger Satz übrig. Der stammt vom Bürgermeister einer größeren und wunderbaren Stadt im Nordosten Deutschlands und lautet: „Das Wort veraltet einem im Munde“. Was also wäre das Fazit? Weniger schreiben, mehr auf Wasser sehen?

Dabei enthält der Band durchaus Gedankenmaterial, das für die Zukunft genutzt werden kann. Interessant, daß es nicht von Politikern stammt; weder von westdeutschen noch von ostdeutschen. Aufschlußreich, daß es nicht aus der Werkstatt der sozialistischen Theoretiker kommt; weder von Oskar Negt noch von Ernest Mandel. Auch nicht von den professionellen Ökologen, von Rudolf Bahro oder Robert Jungk. Die sensibelsten Analysen kommen wieder einmal aus der hintersten Ecke - von dem ökolibertären Einzelgänger Thomas Schmid, der den Mut hat, „Potentiale der Rohheit und der Rücksichtslosigkeit“ in einer Gesellschaft anzuprangern, „die formlos und zivil unerfahren gehalten wurde und die ihren Mitgliedern so elend wenig Chancen gegeben hat, gesellig zu werden“. Schmid gelingt es, Honecker zu kritisieren und trotzdem von der Zukunft zu reden. Ähnliches gilt für den ökokatholischen Intellektuellen Otto Kallscheuer, der sein Geschichtsgefühl an der vielfältigen Kulturlandschaft Italiens geschärft hat. Er ahnt, als einziger Autor des Bandes, die Balkanisierung Europas voraus. Zwar begeht er eine philosophische Todsünde: Er wirft Herder mit Fichte, Lassalle und Kurt Schumacher in einen Topf, was nun wirklich ein Sakrileg ist. Herder hat den Europäern die Sensibilität gegenüber Volkskultur, Dialekten und nationaler Individualität beigebracht. Er hat kein einziges Mal in seinem Leben vom Nationalstaat geträumt. Fichte dagegen ist sozusagen der „Erfinder“ des deutschen Nationalismus, von ihm stammt der Satz: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend“. Aber von diesem Fauxpas abgesehen, beweist Kallscheuer ein untrügliches Gespür für die europäische Gewitteratmosphäre, die aufzieht. Er kämpft gegen die Balkanisierung Europas, polemisiert gegen den abgestandenen Souveränitätsbegriff und wagt es sogar, die scheinbar sakrosankte Formel des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ in Zweifel zu ziehen. Es ist also nicht so, als ob das erste (und letzte?) Joint -venture eines westdeutschen und eines ostdeutschen Verlags nicht hochlesenswerte Beiträge enthielte.

Aber im ganzen löst der Band bei mir nur ein paar Vokative, ein paar Zurufe an die deutsche Linke aus. Bitte fünf Jahre keine Höderlin-Zitate mehr, bitte keine Melancholie, keine Warnungen vor Kohls unzumutbarem Tempo, keine trotzigen Sozialismus-Formeln, kein „Dennoch-die-Schwerter-Halten-in -die-Stunde-der-Welt“. Freunde, jetzt müssen wir uns die Pose der unerschütterlichen Nachdenklichkeit vom Gesicht wischen. Entweder wir handeln jetzt, oder wir werden weiter behandelt.

Also Bündnispartner suchen, keine falschen Fronten mehr aufmachen, hübsch technokratisch bleiben und schwuppdiwupp zurück in die Vita activa. Zum Beispiel: Nicht herumfaseln von den kalten Superstrukturen der EG, sondern mit Jacques Delors gegen die Dummheiten kämpfen, gleichgültig, ob sie von Kohl oder von de Maiziere zu verantworten sind. Nicht nur ein Europa der Regionen beschwören, sondern die Ministerpräsidenten wild machen; ihr Eigeninteresse mobilisieren. Nicht in den nächsten Wunschtraum - die Ersetzung der Nato durch die KSZE - verfallen, sondern die reform der Nato betreiben. Die Idee, zusammen mit den Herren Iliescu, Tudjman, Milosevic und Landsbergis europäische Sicherheit organisieren zu können, ist etwa so praktisch, wie es der Einfall war, Helmut Kohl mit Hilfe von Lothar de Maiziere auf einen „Kurs der Mitte“ zu zwingen. Es ist schon richtig: „Nichts wird mehr so sein, wie es war.“ Aber jetzt geht es um die Frage, was morgen kommt. Die westeuropäische, die europäische, die antinationalistische Linke hat das Spiel noch nicht verloren. Aber sie muß jetzt anfangen, es zu spielen. Wie sagte doch der deutsche Dichter, der in einem Turm am Neckar endete? - „So viel Anfang war noch nie.“ Schon, schon. Bedenkenswert ist aber auch die Maxime eines niederbayrischen SPD-Funktionärs namens Erhard Auer: „Bajonette gehen durch die dickste Hose.“ Nehmen wir's rein metaphorisch; aber nehmen wir es ernst.

Peter Glotz

Frank Blohm, Wolfgang Herzberg: Nichts wird mehr so sein, wie es wahr.

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Reclam/Leipzig und Luchterhand Literatur-Verlag/Frankfurt am Main 1990.