Wo Bremen jetzt im Winter liegt

■ Smog über den Vorgärten der „Calle de Bremen“ in Santiago de Chile

Wenn es in Bremen Sommer wird, dann scheint blaß der Schnee der Anden durch den Smog über der Calle de Bremen. Aus zehntausend Minibus-Auspuffrohren, aus den Kohleheizungen der Bürohäuser, aus den Industrieschloten qualmt es schwarz, mischt sich zu dicken Wolken und legt sich wie ein Deckel auf den Topf, auf dessen Boden Santiago de Chile, eingezingelt von hohen Hügeln und noch höheren Bergen, die Luft ausgeht. Nur dank der leeren Staatskasse ist die Stadt dem Projekt des

wahnsinnigen Diktators entgangen, der einen der Berge schleifen lassen wollte, um der Stadt Durchzug zu verschaffen. Die funkelnagelneue und einzige Metrolinie nimmt die BewohnerInnen der 4-Millionen-Stadt nur für wenige Minuten in unterirdischen Schutz vor dem Smog. An der Calle de Bremen kommt sie nicht vorbei.

Dort blickt die Palme traurig in den grauen Himmel. Neben ihr hängt die Schaukel leer vom Spielplatzgerät, der Kindergarten an der Plaza de Bremen findet drinnen statt. Verblichen und bröckelig ducken sich Ein-Familien-Häuser mit ihren spanischen Schnörkel-Balkonen hinter den Gartenzäunen. Die Hausangestellten haben sogar den Sandstreifen zwischen Straße und Vorgarten gründlich gefegt. Der Rost am 180er Diesel-Daimler auf dem Trottoir zeigt an, daß sein Besitzer nicht zu jenem Teil der chilenischen Mittelschicht gehört, der

sich am Wirtschaftsboom der Chicago-Boys eine goldene Nase verdient hat. Die deutsch-chilenische Standarte im Fenster zeigt an, daß er in der Calle de Bremen trotzdem gerne Geld haben würde, wie in Bremen.

„Natürlich haben wir immer mehr Geld, aber es ist immer weniger wert“, bringt Juan das Problem der Mittelschicht auf den Punkt. Das Haus ist mit einem billigen Kredit gekauft, doch die Raten, in Dollar berechnet, werden jeden Monat teurer - schneller als die Gehälter der Inflation folgen. Schon das nächste Gehalt gehört eigentlich den Banken. Während deren Fassaden sich auch in Santiago postmodern aufrüsten, blättert in der Calle de Bremen der Putz.

Für Judit, die Hausangestellte, langt die Hälfte des verdienten Geldes für die vier Mikrobusse, die sie täglich für den weiten Weg aus der ummauerten Poblacion am Stadtrand zum Arbeitsplatz in

der Calle de Bremen braucht. Der Hunger ihrer Familie muß sich nach der anderen Hälfte richten. „Hauptsache, es ändert sich nichts“, meint sie, „denn wenn es besser wird, haben wir auch nur genug zum Überleben, wenn es aber schlechter wird, dann geht gar nichts mehr.“

Judits Zynismus ist auch ein bißchen ironisch gemeint. Denn als damals die Wahlspots des Oppositionskandidaten Patricio Aylwin jung und bunt über den Fernsehschirm flimmerten, da hatte sie mit leuchtenden Augen mitgesungen: „Gana la gente“ - es gewinnen die Leute. Und als im chilenischen Frühling 16 Jahre blutiger Militärdiktatur abgewählt waren, da hatte in der Wahlnacht auch Judit dem väterlichen Christdemokraten zugejubelt.

Doch das war am 14. Dezember und auf dem Prachtboulevard Santiagos, das heute nicht mehr nach dem Tag des Putsches Avenida del 11 de Setiembre heißt, sondern wieder Alameda. Die Calle de Bremen hat Republik, Militärherrschaft und Rückkehr zur Demokratie ohne Namenswechsel überlebt. In der kleinbürgerlichen Vorgarten -Welt der Mittelschicht Santiagos hat es keine Straßenkämpfe gegeben. „Das ganze Viertel heißt doch hier nach deutschen Städten“, erklärt sich der Lebensmittelhändler den unverfänglichen Namen seiner Straße. Parallel läuft die Avenida de Hamburgo, am Ende kreuzt die Calle de Bonn.

Vor dem Pinguin, der einzigen Kneipe in der Calle de Bremen, haben sich die Mofa-Rocker der Nachbarschaft getroffen. Mit ihren aufheulenden Zweitaktern schaffen sie es daß sich jetzt der Grauschleier vor den Schneebergen am Horizont völlig schließt.

Dirk Asendorpf