Berlins Parlament auf Preußens Parkett?

■ Der vergessene alte preußische Landtag gegenüber dem Martin-Gropius-Bau hat plötzlich eine parlamentarische Zukunft: In den bisherigen DDR-Beamtensilo könnte schon bald das Stadtparlament einziehen / Die taz besuchte das Gemäuer

Mitte. Je schneller nun alles in Stadt und Land zusammenwächst, um so drängender wird für Politiker in Berlin nun die Frage, wo überall man nun die Vertreter ihres Berufstandes in der künftigen Hauptstadt unterbringen könnte.Wie viele Mandatsträger oder Verwaltungsstellen passen wo rein? Wo sollen beispielsweise die Abgeordneten des Gesamtberliner Parlaments in Zukunft ihre Sitzungen abhalten? Weder im Ostberliner Rote Rathaus noch im Schöneberger oder sonst irgendwo in der Stadt findet sich ein geignetes Gebäude, das nicht zu klein oder schon anderweitig vergeben wäre. Doch nun plötzlich geistert seit einigen Tagen die Lösung durch die Medien - der alte Landtag in der Ostberliner heutigen Niederkirchnerstraße (ehmals Prinz-Albrecht-Straße). West-Berlins Parlamentspräsident Wohlrabe mit Gefolge stattete dem imposanten Altbau dieser Tage bereits einen Be such ab.

Nur die wenigsten und vornehmlich älteren Berliner können mit diesem Begriff noch etwas anfangen und kennen das im Neorenaissancestil von 1892 bis 1899 errichtete Gebäude gegenüber dem heutigen Martin-Gropius-Bau. Jahrzehntelang führte das bis heute nicht vollständig wiederhergestellte ehemalige Parlamentsgebäude ein isoliertes und zweckentfremdetes Mauerblümchendasein. Seit Reichskanzler Franz von Papen am 20. Juli 1932 die von der SPD gestellte preußische Regierung durch ein Reichswehrkommando absetzen ließ, um damit die Unterstützung der NSDAP im Reichstag zu gewinnen, verlor die Abgeordnetenkammer ihre politische Bedeutung. Die unselige Nachbarschaft des Kriegsministeriums und späteren Reichsluftfahrtsministeriums Hermann Görings hatte sich durchgesetzt. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch Deutschlands untersagten die alliierten Siegermächte 1947 die Neugründung eines preußischen Staates. Die Teilung Deutschlands und Berlins verhinderten schließlich auch endgültig die Wiederauferstehung eines Gesamtberliner Stadtparlaments. Das Haus gehörte zur sowjetischen Besatzungszone, und in vierzig Jahren DDR zogen zwar neue Nutzer ein, aber der durch Bomben verwüstete Plenarsaal wurde bis heute nicht rekonstruiert. Die früheren Zugänge wurden einfach fest verschlossen, und das Dach war lange Jahre nur notdürftig mit Dachpappe und erst vor zwei Jahren mit einer stabilen Glaskonstruktion abgedeckt. Den Komplex mit zwei untereinander verbundenen Hauptgebäuden für die erste beziehungsweise zweite Regierungskammer auf den Grundstücken Leipziger Straße 3 und 4 teilen sich heute mehere Institutionen. Das ehemalige Herrenhaus für die erste Kammer beherbergt heute einen Teil der Akademie der Wissenschaften. Der Gebäudeteil der zweiten Kammer des Landtags, dessen Front zum frühren Kunstgewerbemuseum und heutigen Martin-Gropius-Bau ausgerichtet ist, wurde von der DDR-Regierung dem „Haus der Ministerien“, also dem Komplex des ehemaligen Reichsluftfahrtsministeriums, zugeordnet. Das Wirtschaftsministerium und die Stadtplanungskommission unterhalten momentan noch Dienststellen in den alten Landtagsgemäuern. Während es in den Zeiten einer „intakten“ DDR für Normalsterbliche ein bürokratisches Großunternehmen darstellte, das dem Ministerrat unterstellte Gelände und seine Gebäudekomplexe zu betreten, bedarf es auch jetzt noch eines guten Vorwandes, um zu einem Passierschein und damit am streng kontrollierenden Betriebsschutz vorbeizukommen. Einmal hineingekommen, kann man dann aber in Muse auf dem weitläufigen Gelände herumspazieren und sich in aller Ruhe betrachten, was von der alten preußischen Baumasse noch übrig ist. Hunderte von Mitarbeitern der Ministerien wieseln nach wie vor geschäftig durch Gänge und Wege der Bürokratenstadt in der Stadt, die sogar über einen eigenen Friseur, Poliklinik, Apotheke und Lebensmittelladen verfügt.

Neben der Kantine hängt ein Informationsblatt, daß über für 1989/90 anstehenden „Maßnahmen zur Werterhaltung“ informiert. Trotz der direkten Unterstellung unter den Ministerrat ist die Liste der Reparaturen auffällig lang. Dächer, Luftschächte und Bewegungsfugen müssen geschlossen werden, die Sanierung der elektrischen Anlage und Gefahrenbeseitigung an der Fassade stehen an. Im Haus 2, dem ehemaligen preußischen Landtagsgebäude, müssen die Heizungen erneuert werden. Die Betriebshandwerker erzählen, daß die Heizung im Haus 2 seit Jahren in Arbeit ist. „Wir hatten immer nur so wenig Material da, daß wir gerade noch so immer alle was zum Arbeiten hatten.“

Die Spuren von Preußens Gloria sind längst getilgt: An der Außenfassade sind schon vor Jahrzehnten die Wappen der preußischen Provinzen über den Fenstern des Fraktionssitzunssaals verschwunden. Auch die vier großen Schalen an den Hauptecken des Vorderbaues fehlen vollständig. Sie waren von dem Architekten Friedrich Schulze als Flammenbecken für festliche Anlässe gedacht. Der Plenumssaal - 29 Meter breit, 22 Meter tief und stolze 16 Meter hoch (fünf Neubauetagen!) - hatte einen ansteigenden Fußboden mit 15 Prozent Steigung und eine aus akustischen Gründen mit Eichenholz getäfelte Decke. Die Rednerbühne und der Präsidentenplatz waren mit allegorischem Schnitzwerk versehen. Am Rednerpult fanden sich beispielsweise Symbole der Beredsamkeit im guten und im schlechten Sinne. Bei Abstimmungen durch den sogenannten „Hammelsprung“ verließen die Abgeordneten den Saal entweder durch die Ja- oder die Nein-Tür. Die eine war mit Rosen und die andere mit Disteln gestaltet. 433 Abgeordnete sowie Zuhörer und Presse fanden im Saal reichlich Platz. Es gab im dem Gebäude unter anderem eine Handbibliothek, Lesesäle, Erfrischungsräume und Aufzüge. Oben auf dem Dach des Hauses sollen sogar Ziegen gehalten worden sein, deren Milch dann in der Kantine verkauft wurde. Doch auch von den Ziegenställen ist nichts mehr zu sehen.

Inzwischen werden die Zimmer auch von ihren letzten Nutzern verlassen. Die Entlassungswelle in der DDR fordert auch im „Haus der Ministerien“ ihre Opfer, und es stehen bereits viele der über 250 Zimmer leer. Wer auch immer der nächste Eigentümer des einstigen preußischen Landtages wird - der Bund oder das Land Berlin(-Brandenburg?) -, der wird zumindest noch einiges an Sanierungsarbeit zu leisten haben.

markstein