E IN TAG, DER SICH LOHNT!

Reisenotizen einer Kaffeefahrt in die DDR

VON GÜNTER ERMLICH

Es ist 5.55 Uhr in Berlin-Moabit. Wer eine Kaffeefahrt erleben will, der muß Frühaufsteher sein. „Traumhaft schöne Ausflugsfahrt nach Schwerin - Stadt der sieben Seen“, stand auf dem bunten Faltprospekt, der per Postwurf im Briefkasten landete. „Ein Tag, der sich lohnt!“ - für 19,90 DM. Das Ein -Tages-Rundum-Sorglos-Urlaubspaket enthält für jeden Fahrgast „die Fahrt nach Schwerin, Besichtigungsmöglichkeit Schwerin, Einkaufsmöglichkeit von Weimarer Porzellan + 1 große Schlachteplatte oder ein 20tlg. wunderschönes Kaffeeservice oder ein 15tlg. Eßservice“. Herz, was willst du mehr? Auf zum Kaffeefahrt-Kränzchen, jetzt auch in die DDR!

„Auch nach Schwerin?“ fragt uns eher pro forma der Grenzer am nördlichen Berliner Übergang Heiligensee. Busfahrer Michael scherzt zur morgendlichen Aufmunterung der Fahrgäste: „Ja, aber wenn Sie uns sagen, daß es eingestürzt oder abgebrannt ist, brauchen wir natürlich nicht hinzufahren!“

Schwerin steht noch, versichert uns der Grenzer glaubwürdig. Obwohl noch mitten im Frühling, säuselt aus Michaels Kassettenrekorder, während wir Nauen passieren, schon der „Sommerwind, Sommerwind, tausend Tränen, die dich begleiten, von dem Schicksal aus alten Zeiten“.

Obligatorischer Haltepunkt „Intershop“: Vor allem maskuline Rotbäckchen, schon gezeichnet von frühmorgendlicher Trinkgymnastik, sacken Flaschen und Dosen in großen Mengen zum späteren Verzehr ein. „Wie geht's uns denn? - „Gut, danke, und selber?“ - „Man muß ja wieder mal neue Leute kennenlernen.“ Die zwei Frauen in den besten Jahren warten ungeduldig vor dem Bus darauf, daß endlich auch der letzte Schnapsgroßeinkäufer den „Intershop“ verläßt.

Gerade jenseits der Pensionsgrenze und damit im besten Kaffeefahrt-Alter, löchert das Pärchen mit den auffällig vielen Einkaufstaschen Busfahrer Michael über die Kaffeefahrt-Gepflogenheiten. „Und was passiert, wenn er nichts verkauft?“ - „Das berühmte dumme Gesicht!“ - „Und wann sind wir wieder zurück in Berlin?“ - „Das hängt von dem Erzähler ab, wie lange er erzählt. Er muß eine bestimmte Menge verkaufen, einen bestimmten Schnitt machen.“

Wir verlassen die Autobahn und erreichen Goldenstedt, ein mecklenburgisches Kaff irgendwo auf dem platten Lande. Von Schwerin weit und breit keine Spur. Michael parkt den Reisebus vor dem Landgasthof „Zur Linde“. An dieser mächtigen Linde hängt ein kleines Plakat: „Große Disko“, in der Wirtsstube ein viel größeres: „Großes Europa, großes Deutschland. Christdemokraten bauen Europa.“

Aufmerksam hat uns Busfahrer Michael beim Aussteigen noch einen guten Rat mit auf den Weg gegeben: „Euroschecks, Bargeld mitnehmen, falls Sie sich doch überreden lassen.“ Eine wie aus dem Ei gepellte Mitvierzigerin hat schon auf unsere Ankunft gewartet, betritt den Bus, begrüßt uns „im Namen der Firma Saturn-Touristik“ (Name von der Redaktion geändert) und geleitet uns 60 KaffeefahrerInnen, damit auch kein Schäfchen verlorengeht, sicher über den Hof in den großen Gasthaussaal, eine umgebaute Scheune.

Nach dem Frühstücksverzehr von Wurst- und Käsebrötchenhälften betritt ein Mitvierziger dynamisch -federnden Schrittes die Scheunenbühne: „Guten Morgen, ich heiße Burkhard V., die Dame haben Sie ja schon kennengelernt. Das ist Doris, meine Frau. Wir kommen von der Firma Saturn-Touristik aus Bremen.“ Burkhard hat diese unwiderstehliche Sonnenstudiobräune, einen gezwirbelten Schnäuzer, aufgekrempelte Hemdsärmel. Lässig baumelt ein Mikrophon um seinen Hals. Laissez-faire ist angesagt: „Wir wollen, daß Sie zufrieden sind. Sie können machen, was Sie wollen, draußen spazierengehen oder ein Bier an der Theke trinken.“ Nur ein jüngeres Pärchen wird nach kurzer gemeinsamer Lagebesprechung fahnenflüchtig, um die Goldenstedter Gegend mit der Nikon zu erobern. Es muß die freiwillige Teilnahme an der „Werbeverkaufsschau“ mit Freizeit verwechselt haben. Von draußen scheint die herrliche mecklenburgische Sonne durch die Fenster.

Burkhard erläutert uns „kurz“ das Tagesprogramm. Die drei HO-Gaststätten in der Schweriner Fußgängerzone seien immer proppevoll, warten sei vonnöten, „und warum wollen Sie eineinhalb Stunden Ihrer kostbaren Zeit dort rumlungern?“ Statt dessen empfiehlt er uns, gleich hier im urgemütlichen Gasthof - der Einfachheit halber - nach der Werbeveranstaltung ein deftiges Kotelett mit Beilagen für 8,50 DM oder einen leckeren Hackbraten für 9 DM einzunehmen.

„He, Mädels von der SPD, hört doch mal zu“, diszipliniert Burkhard die beiden tuschelnden Moabiter Witwen mit geblümten Blusen und Sonnenhüten, die eine mit braunem, die andere mit schwarzem Krückstock. „Moment, paß auf“, ist seine ständig wiederkehrende, aufmerksamkeitsheischende Anrede. Ein Wortschwall, hanseatisch eingefärbt, wird in den nächsten 135 Minuten unaufhörlich auf uns niederprasseln.

Nein, mit Baby-Lama-Alpaca-Decken oder Kochtopfsets aus Chromnickelstahl, Bügelpressen oder Kräuterölen will Burkhard uns heute nicht belästigen. Auch nicht mit dem „berühmten Weimarer Porzellan“, das wir eigentlich auf dieser Kaffeefahrt „direkt ab Werk zu günstigen Einkaufspreisen“ hätten erwerben können sollen.

Nein, das heutige Kaffeefahrt-Thema heißt Magnettherapie. Demonstrativ hält Burkhard einen schmalen Magnetstreifen hoch. „Wissen Sie, was so ein Streifen in der Apotheke kostet? Fast 400 Mark.“ Wir stöhnen. Doch Burkhard wäre nicht Burkhard, hätte er nicht postwendend Linderung parat. „Ich habe Ihnen hier mal so eine Decke mitgebracht. Sie hat sechs magnetische Längsstreifen, eine Legierung aus vier Mineralien.“ Im Gegenlicht schimmern die sechs magnetischen Längsstreifen sichtbar durch die Biberleinendecke.

In einer Klarsichtfolie hat uns Burkhard einen Ausriß aus dem 'Deutschen Ärzteblatt‘ mitgebracht. Unermüdlich referiert er über alle möglichen Krankheiten, wogegen die Magnettherapie gut sein solle. Dann bittet er um Erfahrungen von Gästen, die so eine Decke schon ihr eigen nennen dürfen. Mehrere Hände schnellen hoch: „Wirbelsäulenschaden“, „Durchblutungsschwierigkeiten“. Die Scheune wird zum Sprechzimmer. Eine Patientin offenbart sich: „Ich hab zwar so eine Decke, habe sie aber nie benutzt. Erst ein Professor aus dem Osten hat mir gesagt, die sei gut.“ - „Seh'n Sie, da muß erst ein Professor kommen“, lächelt Burkhard über den willkommenen Gelehrtenbeistand.

Aus diesem Holz muß jemand geschnitzt sein, der ein Prädikatsexamen im Fach Rhetorik abgelegt hat. So manchen Hinterbänkler im Deutschen Bundestag würde Burkhard rhetorisch mit Leichtigkeit über den Tisch ziehen. Und da ist ja noch Verlaß auf die hellwache Oma, die immer „psst“ zischt, wenn im Saal die Aufmerksamkeit nachzulassen droht. Wie eine Souffleuse gibt sie Burkhard, fast wie auf Bestellung, entscheidende Stichworte zur magnetgeladenen Decke, auf der sie schon lange Jahre schläft. Als Stammkaffeefahrerin ist sie mit dem Verkaufsprozedere bestens vertraut.

Ex cathedra verkündet Burkhard, der Verkaufsprediger, die frohe Botschaft: „Diese Decke hält ein Menschenleben, also 30 bis 40 Jahre lang. Sie ist kein Allheilmittel, die Krankheit geht dadurch nicht weg. Aber die Schmerzen gehen weg, Sie werden schmerz- und beschwerdefrei.“

„Was kostet denn so eine Decke?“ stellt ein Interessierter die Kardinalfrage. Unruhiges Gemurmel. „Jeder im Saal hier kann sich so eine Decke leisten“, beschwichtigt Burkhard sofort die Gemüter. Jetzt zieht er den Joker - „unsere unnütze Verschwendungssucht“ - aus dem hochgekrempelten Ärmel. „Wie die elektrische Brotmaschine in unserer Küche, die meine Frau fast nie benutzt wegen der Krümel und des komplizierten Aufbaus“, berichtet Burkhard aus dem familiären Schatzkästlein, „oder die elektrische Bohrmaschine, wenn man sie oft benutzen würde, wären die Wände bald wie ein Sieb durchlöchert. Wir müssen uns doch fragen: 'Was ist mir meine Gesundheit wert?‘ anstatt 'Was kostet die Magnettherapie?‘ Auch auf die Gefahr hin, daß ich einigen hier im Saal auf die Füße trete“, beugt Burkhard vor: „Wieviel Schnickschnack schenken Sie Ihren Enkeln zu Weihnachten? Früher war das eine Tafel Schokolade, und heute? Heute muß es schon ein Computer oder ein Vidoerecorder sein. Seien Sie doch einmal im Leben egoistisch - Ihrer Gesundheit zuliebe.“ Das sitzt wie ein Volltreffer. Burkhards Verkaufs-Countdown läuft auf Hochtouren. Alle nicken beifällig und klatschen. „So, anstelle eines Applauses, kommen Sie bitte jetzt alle mal hier zu mir nach vorne und fühlen die Decke an.“ Fast alle Gäste folgen Burkhards Bitte. Nach dem Magnettherapiedecken -TÜV praktiziert Burkhard unerwartete Verbraucheraufklärung: „Nach Paragraph 52a Gewerbeordnung brauchen Sie nicht hier und heute zu zahlen, sondern erst bei Lieferung per Post. Wir haben hier Verkaufscoupons für Sie vorbereitet.“

Die distinguierte ältere Dame in weißen Hosen und gelbem Schal flüstert wissend: „Die Decken sind ganz gut, aber ich bin unheilbar gesund.“ Endlich läßt Burkhard die Katze aus dem Sack: Die Biberleinendecke, 2*1,25 Meter, in Karo gesteppt, mit sechs Magnetstreifen, koste heute ausnahmsweise nicht 1.399 Mark, sondern ganze 998 Mark. Dazu packt er noch eine Tagesdecke mit drei niedlichen Katzenköpfen drauf. Erfahrene KaffeefahrerInnen erahnen es schon: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Richtig, ein Doppelsitzkissen mit Magnetfeld und als Geschenk obendrauf eine „vergoldete Halskette aus 18 Karat“ folgt im Sonderangebot, „nicht für 90 Mark, sondern für sage und schreibe 30 Mark“.

Wer jetzt nicht kurzentschlossen zugreift, der muß nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Oder krankhaft geizig sein. „Das Schlimmste ist der Geiz!“ sagt Burkhard. Drei Armreifen „als besonderes Dankeschön unserer Firma“ verspricht er denjenigen, die sich für die letzten Doppelsitzkissen erwärmen können. Wer will sich bei so einem Schnäppchenpreis noch lumpen lassen? Auch meine Tischnachbarin zur Linken nicht, die anfänglich - „einmal und nie wieder“ - noch ihren „Dämlichkeitskauf bei einer Werbeveranstaltung auf Gran Canaria“ bereut hatte. „Das Kissen ist für meinen Schwiegersohn - der hat's immer so mit dem Kreuz.“

Burkhard und Doris scheinen zufrieden, gehen durch die Gänge, kassieren die Doppelsitzkissen und das Woll-Balsam ab und machen sich dann im schweren schwarzen Bremer Mercedes aus dem Staub.

„Die haben in drei Stunden soviel verdient wie unsereins im ganzen Monat“, überschlägt meine Tischnachbarin zur Linken den Umsatz des Propagandisten-Ehepaares. Fünf bis sechs Decken werden sie bestimmt verkauft haben; bei einer Verdienstspanne von einigen hundert Mark kein Pappenstiel.

Nach dem Mittagessen verteilen die Kellner orangene Wertmarken; „K“ für Kaffeeservice (Toskana) „E“ für Eßservice, „ohne“ für die große Schlachteplatte, die sich als Anhäufung von dänischen Wurstdosen herausstellen soll. Zur Bescherung stellen wir uns - einer sozialistischen Wartegemeinschaft täuschend ähnlich - vor das Scheunentor, durch das uns die Busfahrer endlich die langersehnten Kaffeefahrt-Mitbringsel aushändigen.

Nach der Pflicht die Kür: Gerädert schlagen wir noch drei Stunden Freizeit in unserem eigentlichen Tagesausflugsziel Schwerin tot. „Mit vielen Reiseerinnerungen treten wir gegen 18.00 Uhr die Heimreise an“ (Werbeprospekt).