DER BROCKEN IST DEUTSCH

■ Eine sanfte Harzreise mit deutsch-deutschen Härten

Eine sanfte Harzreise mit deutsch-deutschen Härten

Von Christel Burghoff

Als gute Deutsche liebe ich schon lange unsere schönen Mittelgebirge, ihre Wälder und Höhen, das Rauschen der Tannen, den Gesang der Vögel, den Geruch feuchten Waldbodens und vieles andere mehr.

Seit die Grenze zur DDR, die auch den Harz einst in zwei Teile zerschnitt, durchlässiger wurde, erinnere ich mich heftig dieser alter Liebe. Zu Pfingsten breche ich zum Brocken auf.

Seit meiner Kindheit hat er wegen der Hexen- und Teufelsgeschichten meine Phantasie beschäftigt. Er war mir unheimlich, und das um so mehr, weil er als militärisches Sperrgebiet der DDR für immer abgeriegelt schien.

Mein Vorkriegs-Reiseführer, der Grieben, mit dem ich unterwegs bin, empfiehlt die Anreise aus dem Osten. Damals, als Berlin noch Reichshauptstadt war, wurde mit der deutschen Topographie anders umgegangen. Inzwischen ist der Grieben wieder aktuell. Der Reisende bestieg früher in Wernigerode die Harzquerbahn, wechselte in Schierke auf die Brockenbahn über und ging dann noch ein kurzes Stück zu Fuß bis zum Brockenplateau hinauf. Dort vergnügte er sich im Brockenrestaurant und genoß die Aussicht. Blieb er über Nacht, so bestaunte er noch den Sonnenuntergang beziehungsweise -aufgang. So bequem, wie er hinkam, gelangte er auch wieder zurück.

Als Westlerin von heute komme ich aus der anderen Richtung und habe noch keine Ahnung, was mich an neuesten Grenzentwicklungen und auf dem Brocken selbst erwartet.

Von der Bahnendstation Bad Lauterberg aus will ich nach Osten wandern. Im Gegensatz zum normalen Ausflügler habe ich vor, diese Reise möglichst „sanft“ zu gestalten und den Anregungen einschlägiger Merk- und Faltblätter zum „sanften Tourismus“ zu folgen.

Ich muß die Erfahrung machen, daß dieses „sanfte Reisen“ aber zu ungeahnten Härten sich selbst gegenüber führen kann. Daß der Rucksack drückt, nehme ich als gegeben hin, erhebliche Schwierigkeiten macht mir vielmehr die touristische Szenerie des vertouristeten West-Harzes.

Man muß die deutschen Campingplätze irgenwie lieben, um sie notfalls auch ertragen zu können. Der mir ungewohnte Anblick abgezirkelter Standplätze, der Plastikzäunchen und Rüschengardinchen an Caravanfensterchen - diese sinnfälligen Merkmale von Betulichkeit - und die ganze lärmige, aber ordentliche Geschäftigkeit, die hier im Kleinstformat entfaltet wird, schrecken mich ab erst einmal ab, als ich gegen Abend des ersten Tages mein kleines Zelt aufbauen will, um die Harzer Natur auch pur zu erleben. Der Campingplatz ist rammelvoll von motorisierten Ausflüglern. Schwere Motorräder parken an Plätzen mit so romatischen Namen wie „Mondscheinnische“ oder „idyllischer Winkel“. Ein Fluchtreflex treibt mich weiter, fort von dieser Ausgeburt deutscher Idylle.

An Campingplatz Nummer2 angelangt, habe ich keine Wahl mehr, denn es ist fast dunkel. Im letzten Licht des Tages entdecke ich Militärfahrzeuge und große Natozelte. Glücklicherweise trügt der Schein, es ist kein Militärlager; die versammelten Engländer sind angeblich allein zu ihrem Freizeitvergnügen hier.

Als Regen einsetzt, suche ich die Campinggaststätte auf. „Biste tatsächlich verheiratet?“ Ich habe mich gerade am Tresen niedergelassen, als eine Frau neben mir ihren Blick stier auf meinen Ring heftet und meinen Ehestatus anzweifelt. Es riecht nach Nässe, Bier und Besäufnis. „Wo haste denn deinen Macker gelassen?“ Die Antwort „zu Hause“ verblüfft sie. Sie selbst ist immer in Begleitung ihres Ehemannes. Das Paar fährt jedes Wochenende 135 Kilometer hierher zum gemieteten Dauerstandplatz. „Und da gehst du ganz allein - so ganz allein durch den Wald!?“ Sie scheint mich mit Rotkäppchen zu verwechseln. Ich trinke einige Fläschen „Altfränkischen“ mit. Der ortstypische „Schierker Feuerstein“ wäre mir lieber gewesen.

Allmählich komme ich der Frage wieder näher, wie man am besten über die Grenze und zum Brocken kommt. Die Frau wehrt die Idee entgeistert ab, „da kriegt mich nichts rüber, bloß nich!“ Ihr Mann dagegen wird unternehmungslustig. Am nächsten Morgen will er mich immerhin nach Braunlage bis zur Grenze fahren. Nach einem schweren Gang auf die Toilette erinnert sie ihn aber an eine Verabredung mit den Zeltnachbarn. Der Wirt meint hilfreich, ich müsse erst weiter in den Süden bis nach Bad Sachsa. Ich schaue ihn ungläubig an, denn er scheint nicht ganz auf dem Laufenden zu sein. Er macht auf mich den Eindruck eines alterslosen Zwerges, der Hunderte von Jahren in den Harzer Bergwerksstollen zugebracht hat. Wie sich tags darauf herausstellt, ist die oberirdische Entwicklung in manchem an ihm vorübergegangen, denn von den grenznahen Orten aus ist längst ein Linienbusverkehr in die DDR installiert.

Auch ich muß mir den Schuh anziehen, nicht ausreichend informiert zu sein. Leichtfertig hatte ich übersehen, daß „sanftes Reisen“ ungeachtet aller Spontaneität und Erlebnisbereitschaft, die man dabei an den Tag legen soll, einer überaus gründlichen Vorbereitung und vorausschauenden Planung bedarf. Wer nur drei Tage Zeit für eine kleine Harzreise hat, kann nicht so tun, als könne er sich beliebig lang „auf Land und Leute einlassen“. An der Bushaltestelle am Campingplatz muß ich erfahren, daß die Linie, die ich zur Weiterfahrt benutzen will, eingestellt wurde. Damit gerät meine Zeitplanung durcheinander, und der Brocken rückt wieder in unerreichbare Ferne. Deprimiert wandere ich weiter.

Es regnet erneut. Mich nervt der ohrenbetäubende Verkehrslärm. Seit ich den Zug verließ, befinde ich mich mitten im „Wochenendausflugsverkehr“. In die übliche Schlange der Mittelklasse-Pkws haben sich zahllose Caravans, Wohnmobile und - donnernd - die Pulks der Motorradfreaks gemischt. Schwere Maschinen lärmen und stinken gegen kleine DDR-Pkws an, die die Abgaspalette um eine üble Variante bereichert haben.

„Ferien vom Ich“ - so heißt der Campingplatz bei Braunlage, an dem ich nach etlichen Stunden eher zufällig vorbeikomme. Es war zwar anders gemeint, aber als Motto kann das auch meine demoralisierte Verfassung kennzeichnen. Ich beschließe, wieder „ich selbst“ zu werden und den dritten Tag weniger vorschriftsmäßig anzugehen.

Der Grieben kommt in den Rucksack, und der Rucksack landet in einem Bahnhofsschließfach. Ich habe mich an Goethe erinnert, der einst am 10.Dezember 1777 von Torfhaus aus den Aufstieg auf den Brocken wagte. Dunkel erinnere ich mich außerdem an meine Schulzeit und einen Torfhausbesuch. Wir wurden damals (aus pädagogischen Gründen?) direkt bis zur Grenze geführt, um die „Schande“, die die „bösen Russen“ und „die von drüben“ über „uns“ gebracht hatte, sinnlich erleben zu können.

In Torfhaus weist nichts auf das neueste Gerücht hin, daß der Grenzzaun am Eckernsprung ein Loch haben soll. Zweifelnd befrage ich dann den DDR-Grenzer, der dort postiert ist, ob man den Durchgang tatsächlich benutzen könne. Es sei noch ungefähr eine Stunde bis zum Gipfel, belehrt er mich. „Der Zaun wurde mutwillig aufgemacht. Was soll man machen?“ Er zuckt die Schultern und lächelt unverbindlich. Er demonstriert an diesem neuen „Grenzübergang“ DDR-Präsenz ohne weitere Funktion. Bereits Anfang Dezember erzwangen deutsche Wanderfreunde die Öffnung „ihres“ Brockens. Es muß tiefstem deutschen Empfinden entspringen, daß sie sich inzwischen auch ihre traditionellen Wanderrouten zurückerobert haben. Sind unsere Wandervögel militant? Sie schaffen bereits vor der Wiedervereinigung höchst eigenmächtige Tatsachen. Meine „sanften“ Vorstellungen erreichen eine Grenze anderer Art.

„Wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken, und besonders an die große, mystische deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust. Mir war immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinaufklettere...“, schrieb Heinrich Heine Anno 1825. In der aktuellen Situation verbinden sich die Gedanken automatisch mit Kinomeister Tarkowski, der in seinem Film Stalker den unvergleichlich prägnanten Eindruck einer solchen „Zone“ geschaffen hat, wie ich sie jetzt betrete - mit dem Unterschied allerdings, daß in den Todesstreifen die Touristen eingefallen sind. Vor meinen Augen füllen sich die Filmsequenzen von militärisch hochgesicherten, zerbröselnden und wieder zuwachsenden mysteriösen Sperrgebiet mit den unvermeidlich rotbestrumpften und kniebundbehosten Wanderfreunden, die alle durch den Zaun dem Brocken zustreben. Über Betonplatten geht es zwischen Mauer und Zaun den Berg hinauf, vorbei an den Überbleibseln ehemaliger Staatsicherung; die Route führt dann über die alte Brockenbahntrasse weiter durch den urzeitlichen Hochwald, bis die Torfhaus-Wanderer auf die Schierke-Wanderer treffen und sie gemeinsam weiterziehen. „Honneker wußte es: Wenn die Mauer fällt, überrennen uns die Touristen“, bemerkt jemand treffend am Eingangstor zum Brockenplateau. Die Verhältnisse haben sich komplett verkehrt. Nichts mutet merkwürdiger an, als die auf dem Brocken beim Bau eines neuen Zaunes um ihre eigene kleine „Zone“ zu beobachten. In langen steinfarbenen Mänteln und sibirischen Pelzmützen bewegen sie sich verhalten durch die Trümmer abgerissener Bauten und nehmen sogar die gewünschten Posen ein, wenn jemand gestikulierend an den Stacheldraht herantritt und um ein Foto bittet.

„Das Brockenplateau“ glich während der Pfingsttage einem Heerlager“, schreibt die 'Harzer Zeitung‘ später und meint damit nicht etwa das Militär, sondern die Touristen. Sie haben qua Masse die Übermacht und damit selbst das Fotoverbot für militärische Anlagen abgeschafft. Sie inspizieren, begutachten und kritisieren den Zustand des Plateaus, mal unter Naturschutzgesichtspunkten, mal unter baulichen Aspekten oder im Hinblick auf die Zukunft. Die ehemaligen „Bewacher“ sitzen - von aufmerksamen Blicken verfolgt - auf ihrem Areal und verbarrikadieren sich.

Der Charakter dieses Berges sei ganz deutsch, meinte Heine. „Der Brocken ist ein Deutscher.“ Wie wahr! Leider wird Heine nie mehr erfahren, wie geschichtsträchtig seine Beobachtung noch geworden ist. „Mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns klar und deutlich, wie ein Riesenpanorama, die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer, die meistens nördlich liegen, und ringsum alle Berge, Wälder, Flüsse, Flächen, unendlich weit.“ Wie Anno 1825 stehen die Touristen heute wieder auf der Brockenkuppe und deuten weit ins Land hinein, die einen sachkundig und laut gestikulierend, die anderen eher andächtig, eingefangen vom deutsch-deutschen Wiedervereinigungserlebnis.

Es ist kalt hier oben. Mein Magen knurrt und deutet nach so viel Hochgefühl wieder mehr nach innen. Am Brockenimbiß holt mich unsanft die DDR-Realität ein: Ruhetag! Der Imbiß ist geschlossen. Ernüchtert trinke ich meinen mitgebrachten „Schierker Feuerstein“ und mache mich auf den Heimweg.