Die Zeit ist zu schnell für Literatur

 ■ Sowjetische Kritiker zur sowjetischen Literatur

Von Irena Maryniak

Am Rande des Festivals „New Beginnings“ in Glasgow, das sowjetische Kunst und Kunstkritik im November letzten Jahres vorstellte, sprach ich mit einigen Kritikern über die Situation der zeitgenössischen Literatur. Die Stimmung der Gäste aus der Sowjetunion war außerordentlich angeregt aber gleichzeitig pessimistisch: „Ja, wir können alles schreiben, was wir wollen (naja, fast...). Aber die Autoren von heute haben nichts Neues zu sagen, sie sind überpolitisiert, sie denken nicht tief genug, sie verschwenden ihre Energie auf Sprachspiele und erweisen sich damit den Erwartungen nicht gewachsen.“

Wladimir Lakschin, bis vor kurzem stellvertretender Chef der Zeitschrift 'Snamja‘ und einer der ausgewiesensten Literaturkritiker Moskaus, war besonders unglücklich über den Stand der Dinge.

„Es gibt zur Zeit keine Literatur, jedenfalls wenn man Arbeiten ausschließt, die schon vor Jahrzehnten geschrieben wurden. Begabte neue Autoren, wie Wladimir Sorokin oder Oleg Jermakow, suchen noch nach Ideen, mit deren Hilfe sie ihren Arbeiten Gestalt geben können. Und gleichzeitig rasen die Uhrzeiger wie verrückt. In einem Monat machen wir die Erfahrung von zehn Jahren. Ein Tag ist wie eine Woche. Wir können nicht mithalten. Zuviele Impulse überlagern sich. Und jemand, der schreibt, tendiert nun mal zu Philosophie und genauem Erforschen. Unter solchen Bedingungen ist das unmöglich. Man kann auf diesen verrücktgewordenen Rhythmus nur noch wie eine empfindliche Membran reagieren, das heißt, die Schwingungen vielleicht noch weitergeben, sie aber in ihrer Bedeutung nicht mehr genau untersuchen.“

Es muß verführerisch sein, in dieser turbulenten Zeit nostalgisch jener Tage zu gedenken, in denen man sich in die Ruhe einer ländlichen Umgebung zurückziehen konnte, Äpfel und Bienen züchten und große Romane schreiben, ohne daß die störende Stimme des Nachrichtensprechers den Frieden störte. Wehmütig erinnerte Lakschin an Tolstois historischen Rückzug aus dem stürmischen Leben von St.Petersburg in der Zeit der ersten großen Perestroika in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Wäre Tolstoi dageblieben und hätte die Ereignisse aus der Nähe verfolgt, wäre Krieg und Frieden womöglich nie geschrieben worden.

„Wenn unsere Schriftsteller doch nur Landsitze hätten, auf die sie sich zurückziehen könnten. Aber dann wäre da noch das Telefon ... das Fernsehen... Daß Rußland womöglich einer sehr viel fundamentaleren Veränderung entgegengehe, mochte er nicht bejahen. In den vergangenen zweihundert Jahren ist die Literatur Vorbote sozialer Unruhe und politischer Veränderungen gewesen. Sie hatte sich in die Rolle einer moralischen und sogar religiösen Führung begeben. Wäre es nicht jetzt an der Zeit für russische Schriftsteller, eine Position unabhängig von Politik und moralischer oder spiritueller Lehre einzunehmen? „Es gab zweifellos zu viel Dialektik und Moralisieren in der Literatur des 19.Jahrhunderts, und das dauert bis heute an. Aber es gibt auch eine sehr kräftige Tendenz zum Bekenntnis, einen heftigen Wunsch zur Offenlegung des wahren Selbst, der Vermittlung von Schwächen und Fehlern. Denn erst beides gleichzeitig bringt einen wichtigen Teil seiner Dynamik hervor.“

Man hat oft gehört, daß die Schriftsteller aufgrund der mangelnden demokratischen Strukturen in Rußland in die Position von Journalisten und Politikern gedrängt worden sind. Auch die institutionellen Bindungen der kirchlichen Orthodoxie an den Staat hat sie in die Rolle spiritueller Führerschaft genötigt. Aber welche Implikationen die größten Freiheiten der öffentlichen Diskussion für die Schriftsteller als Journalisten und Politiker auch haben mögen, Lakschin jedenfalls sah ein Ende seiner Rolle als Philosoph oder Theologe mitnichten gekommen.

„Ich kann der Auffassung nicht zustimmen, daß die russische Literatur ihre Sinnsuche aufgeben wird. Literatur kann nicht auf Ästhetik und Erforschung des Ichs allein beschränkt werden. Sie wendet sich an die Gegegenwart eines Anderen. Wenn ich nicht mehr versuchen wollte, Ihnen meine Ideen nahezulegen, Sie wenigstens ein bißchen zu überzeugen, dann wäre unsere Kommunikation schnell am Ende.“ „In diesem Sinne, daß Menschen nicht alleine leben und denken, wird Literatur sich auch immer an andere wenden und daher eine Suche nach dem Sinn im Leben bleiben. Ich möchte wissen, wie ich lebe, wie ich die Welt und mich selbst wahrnehme. Und wenn ich das ausdrücke, möchte ich mein Gegenüber infizieren. Tolstoi glaubte daran, daß Literatur infizieren soll - wie eine Krankheit.“

Aber dieser Dialog mit einem vorgestellten Leser, der belehrt, überredet, sogar infiziert werden soll durch die Philosophie des Schreibers, kann leicht zu einer dialektischen Predigt degenerieren, in einen Monolog an den passiven und unterwürfigen Leser.

„Das passiert natürlich. Aber auch Dostojewski hat, wie Michail Baktin gezeigt hat, eine große Polyphonie an Stimmen wahrgenommen. Sich widersprechende Stimmen ... die streiten und ineinandergreifen. Jede trägt ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Vermögen mit sich. Es ist diese Welt an Stimmen, die der Kunst Substanz verleiht.“

Auch der Kritiker Igor Winogradow, seit Jahren für 'Novy Mir‘ schreibend und 1989 literarischer Kolumnist der 'Moscow News‘, sprach mit Nachdruck von seiner Hoffnung auf die Rückkehr einer „Literatur als Vision“.

Die Leser wünschen sich ganz dringlich ein Schreiben, das eine holistische Sicht der Realität ausdrückt. Nicht eine Ansammlung von ins Leere baumelnden Fäden... Wir wissen, daß es unter Stalin schrecklich war, wir wissen, daß das Leben gräßlich ist. Was wir wissen wollen, ist, wie wir leben und was wir tun sollen. Ich glaube, wenn es dieses Bedürfnis gibt, muß darauf reagiert werden. Denn es ist das Bedürfnis der Schriftsteller ebenso wie der Leser: eine Forderung der Gesellschaft. Das muß nicht unbedingt das Maß für die Qualität von Literatur sein, aber im allgemeinen ist es so, daß Literatur darauf reagiert. Das ist meine Prognose für die Zukunft. Und ich glaube, es wird durch die Tatsache bestätigt, daß unsere jüngeren Autoren - Popow, Petruschewskaja, Michail Korajew, Petsuk - alle mit einer philosophischen Unterströmung schreiben.“ Winogradow sieht dies als Rückkehr zu den Fundamenten, die durch Dostojewski und Tolstoi gelegt worden sind: Der Mensch als souveränes Wesen mit dem Willen, sein eigenes Leben zu bestimmen und nicht so sehr eines, das ausschließlich oder prinzipiell seiner sozialen Umwelt verpflichtet ist.

„Der sozialistische Realismus hat uns in gewissem Sinne an den Rand dessen zurückgeführt, was ich sozialpsychologischen Realismus nenne: zu Balzac und den französischen Realisten, die Dostojewski und Tolstoi vorausgegangen sind. Aber jetzt ist der alte sozialistische Glaube zerbrochen und unsere Gesellschaft ist in ein geistiges Vakuum geraten. Es gibt ein gewachsenes religiöses Interesse. Es wäre aber falsch, zu meinen, die gesamte Sowjetgesellschaft wende sich wieder dem religiösen Glauben zu. Bestimmte Kreise der Intelligenz und die Alten..., aber dies ist immer noch eine atheistische Gesellschaft. Die Religion existiert nicht wirklich, und es gibt auch nichts, das ihren Platz einnehmen könnte. Also bleiben nur der Konsum, materielle und individuelle Kriterien. Und das ist schrecklich. Man ist völlig verloren damit. Der Mensch muß wissen, zu welchem Zweck er lebt. Warum sollte er sonst moralisch handeln?“

„Es ist ganz offensichtlich, daß unsere Gesellschaft sich in Auflösung befindet. Sie muß neu gebaut werden, in einer neuen Form sozialer Gemeinschaftlichkeit. Aber auf welchen Prinzipien? Es gibt eine relative, konventionelle Moral, und es gibt den Code des sozialen Konsenses, auf dem westliche Gesellschaften beruhen. Aber dafür braucht man eine gewisse kulturelle Tradition. Dieses spirituelle Bedürfnis, das unsere Intelligenz zur Zeit erfährt, stammt aus der Sehnsucht nach Ideen, die sich auf etwas gründen, etwas, was ich eine integrale Weltsicht nenne. Ideen also, die nicht einfach sagen: 'Sei gut, verhalte dich ehrenhaft‘, sondern die daneben eine philosophische Begründung liefern, auf die man ein moralisches System aufbauen kann.“

Wahrhaftig keine leichte Aufgabe für ein junges, ehrgeiziges Schriftstellertalent: die moralischen Fundamente einer neuen Sozialstruktur zu legen, die „ewigen Fragen“ neu zu stellen und ihre Beantwortung zu liefern...

Einigermaßen beklommen ging ich zum Interview mit Wladimir Makanin, von dem es heißt, er sei der am meisten beschimpfte Autor der offiziösen Kritik in der Vergangenheit gewesen und werde jetzt als einer der originellsten Autoren der letzten zwei Jahrzehnte gehandelt. Was bedeutete das Schreiben für ihn? Seine Antwort, daß es eine Sache prophetischer Vision sei, war einigermaßen voraussehbar.

„Ein Schriftsteller ist vielleicht nur ein kleiner Prophet, aber er bleibt dennoch ein Seher. Der seherische Aspekt ist der wichtigste. Sobald ein Schriftsteller sich einfangen läßt von Informationen und Medien, hört er auf, interessant zu sein. Er wird Teil des Betriebes, eines gigantischen Unternehmens.“ „Ich glaube nicht an eine didaktische oder erzieherische Funktion von Literatur, aber ich erkenne in ihr eine Weissagungsqualität über Dinge, die der Mehrheit der Menschen, in der Domäne der Öffentlichkeit sozusagen, nicht zugänglich ist. Dinge, die verborgen sind und nicht immer durch Fakten betätigt werden. Die prophetischen Aussprüche eines Schriftstellers mögen falsch sein. Aber es muß sie geben. Sie gehören zum individuellen Streben, das von sozialen Prägungen unberührt ist.“

Als ausgebildeter Mathematiker riß Makanin Kurt Gödels Theorem kurz an, nach dem Widersprüche innerhalb eines Systems nicht gelöst werden können. „Ein Schriftsteller muß aus dem System heraustreten. Dann sieht er und kann vielleicht nützlich sein. Nicht, daß es seine Sorge sein soll, sich über seine Nützlichkeit Gedanken zu machen. Seine Aufgabe ist es, Gedanken in literarischer Form auszudrücken. Vielleicht wird man ihn zurückweisen. Das ist nicht weiter schlimm. Schlimm ist nur, wenn keiner sprechen darf. Wenn von hundert Propheten einer die Wahrheit spricht, dann ist das gut. Wenn keiner spricht, wird es auch keine Wahrheit geben können.“

Immerhin war es beruhigend zu sehen, daß wenigstens der Schriftsteller ein Bewußtsein seiner eigenen Fehlbarkeit hatte, auch wenn es seine Leser vielleicht nicht haben. Wohin allerdings die literarischen Seher ihr Volk führen werden, ist noch nicht absehbar. Aber eine Gesellschaft, die im Kampf um die Neustrukturierung ihrer sozialen Stände nach spiritueller Führung sucht, ist sicherlich ein besonders verwundbares Wesen. Wird es zwischen dem wahren und dem falschen Propheten unterscheiden können? Werden die Leser dem Schriftsteller glauben, der behauptet, es gäbe keine wahren oder falschen Propheten? Vielleicht ist es auch nur der Ruf nach einem - noch einem - Seher, der den Weg zeigen soll, der dem westlichen Zuhörer so unangenehm in den Ohren klingt...

(In dem von Alexander Kasakewitsch herausgegebenen Sammelband „Die Sintflut. Literatur und Satire im Zeichen der Glasnost“ - Fischer-TB 9287 - finden sich Beiträge von hier erwähnten Autoren, zum Beispiel Ljudmilla Petruschewskaja und Jewgeni Popow.)