Wir müssen den Vorhang für die Pressefreiheit hochziehen!

■ Interview mit Anatolij Golowkow, Redakteur für Innenpolitik beim sowjetischen Magazin 'Ogonjok‘, zu dessen „Unabhängigkeitserklärung“

INTERVIEW

taz: Noch vor Inkrafttreten des neuen Pressegesetzes am 1.8.90, das es jedem Individuum und jeder Organisation erlaubt, eine eigene Zeitung aufzumachen, soweit das Geld dazu vorhanden ist, hat 'Ogonjok‘ seine Unabhängigkeit vom Parteiverlag deklariert. Wollten Sie damit ihre Vorreiterrolle unterstreichen?

Anatolij Golowkow: Wir sind nicht mehr die einzigen, die gegen den totalitären Geist in unserer Gesellschaft zu Felde ziehen, das stimmt. Und wir müssen uns jetzt auf eine harte Konkurrenz gefaßt machen. Die Unabhängigkeitserklärung war daher ein notwendiger Schritt, auch wenn ich glaube, daß unser Chefredakteur Korrotitsch darüber nicht so glücklich war. Es muß sich aber jemand finden, der den Vorhang öffnet. Bisher waren es meistens wir. Die Lage, in der wir stecken, ist aber in vielerlei Hinsicht nicht günstig. Noch immer sind wir nicht frei von Zensur. Meine politische Prognose für den Herbst, die auf die Brisanz der angekündigten Bergarbeiterstreiks zielt, wurde sogar jetzt noch gekippt. Trotz unserer Erklärung übt unser Vorstand Vorsicht gegenüber der KPdSU.

Mit Vorstand meinen Sie doch wohl den Chefredakteur Korrotitsch...

Sicher, ihn und seinen Stellvertreter. Ihm kam es einfach extremistisch vor. Dazu bin ich noch aus der Partei ausgetreten wie viele Journalisten, die vorher einfach drin sein mußten. Ich glaube, dieser Eingriff ist ein schlimmes Zeichen für die Zukunft und symptomatisch: Die Partei will sich von der Kritik ausschließen lassen. Bei uns in Rußland ziemt es sich nicht, über einen Verstorbenen schlecht zu reden... und ohne den Chefredakteur läuft nichts.

Das ist im Westen aber auch nicht anders (für einen taz -Korrespondenten eine erstaunliche Aussage, d.R.). 'Ogonjok‘ verfügt über eine Menge Valuta und vor kurzem sind auch noch profitable Videoredaktionen gegründet worden. Unterstehen die auch noch der Kuratel des ZK, oder haben sich da juristische Schleichwege finden lassen?

Wir sind auf dem Wege, ein Konzern zu werden. Diese Branchen hängen genauso vom ZK ab wie die Illustrierte. Die Abhängigkeit ist eher abstrakt, sie wurzelt im Bewußtsein der Mitarbeiter. Die Partei ruft uns nicht mehr an und sagt: Raus damit! Grundsätzlich sitzt das totalitäre Bewußtsein bei unseren Menschen viel tiefer als bei den anderen Osteuropäern, die noch eine Erinnerung an andere Zeiten haben. Man könnte natürlich sehr leicht alle Probleme in diesem Lande erklären, wenn man behauptete, an allem seien die Juden und Freimaurer schuld.

Ist die Gesellschaft denn überhaupt schon bereit, sich wöchentlich vorhalten zu lassen, daß ihre Werte auf langgehegten ideologisierten Tabus beruhten? Ich sehe da eine sehr beharrliche Abwehrhaltung...

Natürlich ist es besser, erst dann darüber zu reden, wenn der Magen voll ist. Aber darüber schweigen können wir nicht mehr. Diese Probleme wiegen schwerer als die rein politischen. Wie sollte es anders sein in einem Land von Bettlern, wo den Menschen die Vorstellung des „anderen“ fehlt?

Hat die Partei eigentlich schon auf die Ankündigung, sich vom 'Prawda'-Verlag zu trennen, reagiert?

Korrotitsch hat einige Anrufe aus dem Zentralkomitee erhalten... Ich glaube, wir befinden uns derzeit in einer relativ günstigen Lage. Unser Schutzherr ist Alexander Jakowlew.

Jakovlew erfreut sich aber nicht gerade großer Beliebtheit in der Partei. Er repräsentiert doch eher eine Minderheitenposition. Auf dem Parteitag hat sich doch die Mehrheit mit Zähnen und Klauen gegen die Thematisierung der Frage des Parteieigentums gewehrt. Muß die Partei nicht fürchten, andere Medien ihres Imperiums könnten Ihrem Beispiel folgen, und die Partei stünde schließlich nackt da?

Klar, uns steht ein Krieg bevor. Noch gehört alles dem 'Prawda'-Verlag. Dazu zählen viele Zeitungen mit riesigen Auflagen, wie die 'Bäueri‘ mit etwa 22 Millionen. Die machen alle ungeheure Gewinne. Der Verlagsleiter Leontjew hat eine sehr positive Haltung uns gegenüber an den Tag gelegt. Sein Modell sieht so aus, daß die 'Prawda‘ zur Zeitung des ZK wird, wo die Partei weiter ihre kommunistische Wahrheit verbreiten kann. Alle anderen Zeitungen sollen einen Vertrag schließen mit einem unabhängigen Verlag, der noch keinen Namen hat. Der soll als volkseigener Betrieb arbeiten. Ab 1.1.91 würden dann die Profite nicht mehr an die Partei gehen, sondern an uns. Erst dann könnte man in unserem Verlag die Perestroika vorantreiben.

Sie meinen, sich von den Mitarbeitern trennen, die...

Wie überall gibt es bei uns Leute, die schlafen nicht, um die nächste Nummer zu sichern, und andere, die nur zuschauen. Von diesem Ballast müssen wir uns der Effektivität wegen befreien. Bislang war es schwieriger, jemanden an die Luft zu setzen als ihn einzustellen. Wer bislang schon Zugriff auf die Profite hatte, konnte die besten Leute einstellen. Diesen Zug dürfen wir nicht verpassen.

Interwiew: Klaus-Helge Donath