Die Existenzangst wächst

■ Die Arbeitsämter sind jetzt schon überfüllt

'Die NEUE soziale Sicherheit‘, eine Broschüre des Arbeitsministeriums der DDR, liegt in allen Arbeitsämtern aus. „Neue“ in schwarzen Buchstaben auf rotem Grund geschrieben, in gelber Farbe die Ermahnung: „Gut aufbewahren“. Druckort: Freudenstadt. Für viele steht Unsicherheit am Anfang: Seit dem ersten Juli rollt die Entlassungswelle.

Neonlicht, Linoleumböden, Plastikstühle: Menschen drängen sich im langen Gang des Arbeitsamts Potsdam, wer keinen Platz mehr bekommt, lehnt an der Wand. Die „Sozialunion“ hat das Arbeitsförderungsgesetz gegeben, das Recht auf Arbeit genommen. „In den Westen wollte ich nie, weil ich die soziale Unsicherheit und die Arbeitslosigkeit nicht in Kauf nehmen wollte,“ sagt eine 46 Jahre alte Buchhalterin. „Nun haben wir das selber...“

Nicht nur die Unsicherheit ist neu: Arbeitsämter waren bisher dem Rat der Stadt oder dem Magistrat zugeordnet, praktisch hatten sie keine Funktion. Seit März dieses Jahres sind eigenständige Ämter entstanden. 38 über die DDR verteilt. Vorbild sind die Arbeitsämter in der Bundesrepublik, die mithelfen, die neue Verwaltung aufzubauen. Nach Potsdam sind 15 Mitarbeiter aus Nordrhein -Westfalen abgeordnet.

Mit 25 Mitarbeitern fing das Arbeitsamt im April an. Inzwischen sind es 260. Neue Mitarbeiter, neue Gesetzesgrundlagen: Wie funktioniert das überhaupt? „Das fragen wir uns auch manchmal,“ sagt Gärtner. Die Bundesanstalt für Arbeit organisiert einwöchige Mitarbeiterschulungen. Der Rest ist „learning by doing“.

Gotlindestraße, Ost-Berlin, ehemahlige Stasi-Zentrale. Hier ist seit erstem Juni das Arbeitsamt 1 untergebracht. Auf zehn Stockwerke verteilen sich Arbeitsvermittlung, Verwaltung, Anmeldung und Leistungsabteilung. Vier Warteräume auf jedem Flur, lange Stuhlreihen im Gang. Bereitet man sich auf den großen Ansturm vor?

„Ich bin optimistisch,“ sagt eine junge Frau, die ihren Antrag auf Arbeitslosengeld abgeben will. Drei Jahre hat sie als Bauleiterin beim VEB Grünanlagenbau gearbeitet. „Ich bin noch jung genug, um etwas anderes zu lernen. Und wer arbeiten will, der findet sicher auch etwas.“ Arbeitslos zu sein, das kann sie sich auch nach der Kündigung noch nicht vorstellen: „Im November haben wir noch nicht daran gedacht, aber eigentlich mußte man wissen, daß es dieses Jahr schlimm kommt.“

In Regierungskreisen hat man den großen Andrang auf die Arbeitsämter erwartet: „Das ist normal“, lautet die Auskunft von Gabriele Endert-Reinhard, der Pressesprecherin der Zentralen Arbeitsverwaltung. Im Erdgeschoß werden die Anträge auf Arbeitslosengeld abgegeben. „Den Antrag? Für den hab‘ ich am 2. Juli zwei Stunden lang angestanden“, sagt einer der Wartenden. Wer den Antrag auf Arbeitslosengeld abgeben will, reiht sich in eine lange Schlange im 5. Stock ein. „Letztes Mal habe ich bis kurz vor 12 Uhr 30 gewartet. Dann wurde geschlossen. Schlimmer als auf'm Wohnungsamt.“ Seit 1. Juni ist er arbeitslos. Von Beruf Jurist. Die Rechtsabteilung, in der er gearbeitet hat, wurde mit dem Betrieb aufgelöst. „In meinem Beruf müssen jetzt alle neu anfangen.“ Trotzdem versucht er, ohne Umschulung eine neue Stelle zu finden. 21 Bewerbungen hat er geschrieben. 17 Absagen liegen zu Hause. Zur Zeit kommen auf ein Stelle 26 Hochschulabsolventen in Berlin.

Die Arbeitsämter setzten auf Umschulung und Qualifizierung: 61.000 DDR-Bürger seien im Juni weitergebildet worden. „Büro, Verwaltung, Handel, Verkauf, Bauindustrie, Umweltschutz, Steuer- und Finanzwesen, Lehrer müssen dringend umgeschult werden,“ so Pressesprecherin Endert -Reinhard. Die Umschulungsprogramme werden aus dem Westen importiert. Die Arbeitsämter sind weit entfernt von einer positiven Vermittlungsbilanz: Seit Beginn des Jahres wurden vom Arbeitsamt Potsdam 247 Stellen vermittelt. Zur Zeit melden sich dort täglich 200 bis 300 Menschen arbeitslos.

„Bisher waren immer genug Arbeitsstellen vorhanden“, so Endert-Reinhard. „Die Leute haben Existenzangst.“ Als Arbeitslosengeld werden 63% des Nettolohns ausbezahlt. Bei Löhnen zwischen 600 und 1.200 Mark nicht üppig. Kann man davon leben? „Leben schon, aber man muß sich noch mehr einschränken,“ sagt die Buchhalterin. Jetzt, wo man „den ganzen Luxus vor der Haustür hat, fällt das noch schwerer“.

Karin Mayer