„Übergangskrise“ ist bereits voll ausgebrochen

■ Eine Studie des DIW prognostiziert 300.000 Arbeitslose und 470.000 Kurzarbeiter / Arbeitslosenquote schon in diesem Jahr so hoch wie in der BRD / Ende der Talsohle soll schon 1991 kommen / Mittel für Schutzmaßnahmen werden nicht aussreichen

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Wieviel Arbeitslose die Marktwirtschaft in der DDR letztlich produzieren wird, darüber streiten die Experten nach wie vor mit allen Waffen ihres wissenschaftlichen Handwerkszeugs. Alle Prognosen über Tiefe und Dauer der „Übergangskrise“ der DDR-Ökonomie stehen demnach unter dem Vorbehalt, daß es auch ganz anders kommen könnte. Nur eins ist sicher: Sie ist bereits voll ausgebrochen, und das Gefühl der Unsicherheit, mit dem derzeit Millionen Menschen in der DDR leben, ist berechtigt. Das Leben der meisten DDR-Bürger wird sich in den nächsten Monaten und Jahren gründlich verändern, und beim Prozeß der Ausdifferenzierung der DDR-Gesellschaft werden nur wenige die Treppe herauf, aber viele die Treppe herunterfallen.

So ist auch die Prognose des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin über die Entwicklung des DDR-Arbeitsmarktes in den nächsten eineinhalb Jahren nur als Trendaussage zu betrachten abgesehen davon, daß globale statistische Aussagen für die einzelnen BürgerInnen und Belegschaften keinen Aufschluß bringen können, was mit ihnen selbst passieren wird. Dennoch: Sie sind Maßstab für die Dimension der tiefgreifenden Umwälzungen, die mehr über die Menschen hereinbrechen, als daß sie sie selbst betreiben.

Wieviele der gegenwärtig noch fast 8,9 Millionen Erwerbstätigen in der DDR werden noch in diesem Jahr den Gang zum Arbeitsamt gehen müssen? Laut DIW rund 300.000, das sind 3,4 Prozent aller Erwerbspersonen. Darüber hinaus aber erwartet das Institut noch rund 420.000 Kurzarbeiter (4,7 Prozent), die wohl in den meisten Fällen ebenfalls faktisch beschäftigungslos, aber - zumindest vorerst - nicht formell entlassen werden. Damit wäre die tatsächliche Arbeitslosenquote schon in diesem Jahr in etwa auf dem BRD -Niveau von rund acht Prozent. Den großen Einbruch der DDR -Wirtschaft erwartet das Institut aber erst im nächsten Jahr. Das DIW rechnet mit rund 1,4 Millionen Arbeitslosen (16,4 Prozent) und 1,1 Millionen Kurzarbeitern (12,5 Prozent). Also wird fast jeder dritte Beschäftigte in der DDR im nächsten Jahr seine derzeitige Arbeit verlieren, ein großer Teil davon auch seinen Arbeitsplatz. Es ist zu erwarten, daß diese Durchschnittszahl in einigen industriellen Problembereichen und in der Landwirtschaft weit höher liegen wird. Im darauffolgenden Jahr 1991 allerdings erwartet das DIW ein Ende der Talsohle. Aber bis dahin wird sich das Schicksal vieler junger Menschen entschieden haben. So oder so.

Große Hoffnung knüpft die DDR-Regierung an das Arbeitsförderungsgesetz in der DDR, das, anders als das entsprechende Gesetz der Bundesrepublik, die Kombination von Kurzarbeit, also Sicherung von Einkommen und Beschäftigungsverhältnis, auch wenn die Arbeit nicht mehr da ist, und Umschulungs-, bzw. Qualifizierungsmaßnahmen bzw. Beschäftigungspläne erlaubt. Schon jetzt ist absehbar, daß die bislang vorgesehen Mittel für die konkrete Umsetzung derartiger Schutz- und Übergangsmaßnahmen nicht ausreichen werden. Es ist eine Frage der Zeit, wann die Arbeitsverwaltung der DDR Zuschüsse in Milliardenhöhe reklamieren wird, um ihren gesetzlichen Verpflichtungen genügen zu können. Nach Lage der Dinge können diese zusätzlichen Milliardenbeträge nur aus der BRD kommen, auch wenn Finanzminister Waigel sich derzeit noch sperrt. Die Alternative dazu wäre, die Millionen Kurzarbeiter auch formell in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, was jedoch das Finanzierungsproblem für die Arbeitsverwaltung auch nicht lösen würde.

Wie sind die Erfolgsaussichten für betriebliche Beschäftigungspläne? In der Bundesrepublik hat es in den letzten Jahren nach einer Studie des gewerkschaftlichen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in Düsseldorf (WSI) in rund 40 Metallbetrieben derartige Versuche gegeben, durch personellen und produktionstechnischen Strukturwandel Krisensituationen aufzufangen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Erfahrungen mit diesen im einzelnen sehr unterschiedlich konstruierten und finanzierten Beschäftigungsgesellschaften geben durchaus zu Hoffnung Anlaß: „Durch Beschäftigungspläne sind Massenentlassungen vermieden worden. Beschäftigungsverhältnisse konnten aufrechterhalten, aber auch individuelle Mobilitätschancen auf dem externen Arbeitsmarkt verbessert werden“, heißt es in einer Zusammenfassung des DIW. Auch die Betriebe sind damit in aller Regel gut gefahren, weil die Kosten für die Beschäftigungspläne in aller Regel niedriger waren als die zu erwartenden Sozialplankosten bei Massenentlassungen. Allerdings gibt die DIW-Studie keinen Aufschluß darüber, ob die Bedingungen von in Schwierigkeit geratenen westdeutschen Betrieben mit ihrer in der Regel dennoch relativ modernen technischen Ausstattung mit denen in der DDR-Industrie verglichen werden können.