: Großer Knall gegen RAF-Ausstieg
■ Acht Monate nach dem Attentat auf Alfred Herrhausen setzt die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) ihr blutiges Ritual fort. Die Botschaft des Kommandos Jose Manuel Sevillano: „RAF lebt!“ Ihr Opfer diesmal: eine Nummer kleiner. Staatssekretär Hans Neusel, seit 1985 hauptamtlich mit „Terroristenbekämfung“ beschäftigt, wurde nur leicht verletzt und ging anschließend, wie es sich für einen deutschen Beamten gehört, an seinen Schreibtisch.
RAF-Anschlag auf Innenstaatssekretär Neusel
Staatssekretär Hans Neusel gab sich nach dem Bombenanschlag gelassen. Bereits drei Stunden nach dem Attentat tauchte er wieder am Tatort auf. Den staunenden JournalistInnen verkündete er: „Mit geht es sehr gut.“ Die Pressevertreter spendeten Beifall. Neusels Glück war, daß sein Fahrer gerade in Urlaub war. So hatte er den Wagen selbst gesteuert. Da die Bombe die rechte Seite des Wagens aufriß, wurde er nur am Arm verletzt. Nach der Explosion hatte der 62jährige den nicht gepanzerten Wagen noch an den Straßenrand gesteuert, war ausgestiegen und hatte sich von einem Privatwagen die 200 Meter zum Innenministerium fahren lassen. Schaulustige beäugten Neusels demolierten BMW der Siebener-Reihe. Ein Passant urteilte entäuscht: „Sieht doch alles gar nicht so schlimm aus.“
In unmittelbarer Nähe zum Tatort wurde ein Bekennerschreiben mit RAF-Signe (fünfzackiger Stern mit Maschinenpistole) gefunden. Für den beabsichtigten Mord übernimmt ein Kommando der „Rote Armee Fraktion“ mit dem Namen „Jose Manuel Sevillano“ die Verantwortung. Das GRAPO -Mitglied Sevillano war am 25. Mai nach insgesamt 177 Tagen Hungerstreik in den spanischen Gefängnissen gestorben. Die spanischen Militanten aus der GRAPO und der PCE (R) hatten versucht, mit dem Todesfasten ihre „Wiederzusammenlegung“ in große Gruppen durchzusetzten. Die Aktion war auch in der BRD - unter anderem mit befristeten Hungerstreiks der RAF -Gefangenen - unterstützt worden. In dem Bekennerschreiben wird gefordert: „Die Zusammenlegung aller revolutionären Gefangenen und damit die Perspektive für ihre Freiheit (zu) erkämpfen“. Neusel wird darin beschuldigt, „in der faschistischen Bestie Westeuropa“ die Bereiche TREVI und Nato „mitorganisiert“ zu haben. TREVI steht für die internationale Regierungskommission zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens und des Terrorismus.
Um 7.37 Uhr war der Sprengsatz an der Ausfahrt der Köln -Bonner Autobahn in Richtung Graurheindorfer Straße explodiert. Er riß einen Krater mit einem Durchmesser von etwa fünf und einer Tiefe von 1,5 Metern. Der Umstand, daß die Bombe in einem Gebüsch hinter der Leitplanke versteckt war, mag einen maßgeblichen Anteil an dem glimpflichen Ausgang des Attentats gehabt haben. Die Leitplanke wurde auf gut 20 Meter Länge zerstört - sie dürfte die Druckwelle aufgefangen haben.
Nach den Angaben des Sprechers der Bundesanwaltschaft, Hans -Jürgen Förster, wurde der Sprengsatz durch eine Lichtschranke ausgelöst. Parallelen gäbe es sowohl zum Mord am Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, am 30. November 1989 in Bad Homburg, als auch zu dem tödlichen Anschlag auf das Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts am 9. Juli 1986 in Straßlach bei München. Im Fall Herrhausen soll ein ähnlicher Zündmechanismus mit einer Lichtschranke verwendet worden sein. Die „herkömmliche Bombe“ ähnele aber der, die in München von einem RAF -Kommando gezündet worden war. Sicher scheint weiter, daß die Täter in geringer Entfernung zum Tatort gewartet haben müssen, um die Lichtschranke einzuschalten. Von ihnen fehlte gestern jede Spur. Das Ermittlungsverfahren hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe an sich gezogen und das Wiesbadener Bundeskriminalamt (BKA) mit den Ermittlungen beauftragt.
Über alle Parteigrenzen hinweg wurde der Anschlag gestern verurteilt. Regierungssprecher Dieter Vogel sagte, die Bundesregierung sei tief betroffen und erleichtert, daß Neusel nur leicht verletzt worden sei. Kanzler Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker, beide nicht in Bonn, ließen dem Staatssekretär ihre guten Wünsche übermitteln. Die Fraktionssprecherin der Grünen, Antje Vollmer, die vor wenigen Wochen noch das „Ende des politisch motivierten Terrorismus“ erklärt hatte, teilte Neusel telegrafisch ihre Erleichterung über den Ausgang des Anschlages mit. In dem von ihrer Fraktion veröffentlichten Schreiben hieß es weiter: „Der Schrecken über die absolute Sinnlosigkeit solcher Anschläge sitzt tiefer.“
Innenminister Wolfgang Schäuble sprach von einem „brutalen und verbrecherischen Akt unverbesserlicher Terroristen“. Neusel selbst appellierte gestern an die Attentäter: „Laßt ab von eurem kriminellen und verderblichen Tun.“ In einer Zeit, in der der Frieden sicherer werde und die Demokratie sich durchsetze, „sollte die ideologische Verblendung kein Mittel mehr sein, um sich auf tödliche Weise mit Menschen auseinanderzusetzten“.
Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Johannes Gerster, forderte eine umgehende Sondersitzung des Innenausschusses: Geklärt werden solle, ob es Anhaltspunkte dafür gebe, daß die Terroristen den deutsch -deutschen Einigungsprozeß und die Ost-West-Entspannung gezielt stören wollten. Für die CSU-Landesleitung meinte Hermann Fellner, daß „die herausragende Persönlichkeit Neusels, die durch besondere fachliche und menschliche Qualitäten geprägt ist, und seine Zuständigkeit für die Innere Sicherheit“ einen Anschlag auf ihn „nicht unwahrscheinlich“ gemacht hätten. Hans Neusel räumte am Mittag ein, daß er auf der Prominentenliste der anschlagsbedrohten Personen gestanden habe. Allerdings nur als einer „unter Tausenden von Namen“. Der 62jährige, der auf eigenen Wunsch ohne Begleitschutz unterwegs war, will nun seine Sicherheitsvorkehrungen überdenken.
Wolfgang Gast
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen