Alleinlassen ist ein Verbrechen

■ Ein entlassener Patient lief in Bremen Amok, weil er nicht in die Klinik hineinkam / Fragen nach der Psychiatriereform

Vor einer Woche stand der Fall von einem psychisch Kranken in den Bremer Zeitungen, der die ersten beiden Menschen auf dem Gelände des Zentralkrankenhauses Ost niedergestochen hatte, die ihm vor seine Wut liefen. Eine Frau, auf die er durchs offene Wagenfenster zwölfmal eingestochen hatte, ist immer noch in Lebensgefahr. Das Besondere: Der 38jährige Mann, als schizophren diagnostiziert - eine Krankheit, die bis jetzt kaum heilbar ist -, war 14 mal seit 1980 in der Klinik behandelt worden und gerade am Vortag das letzte Mal entlassen worden. Die Aufnahmeärztin äußerte Bedenken gegen die Wiederaufnahme, und er drohte ihr Ohrfeigen an, damit sie ihn wiederaufnähme. Aus dem Wartezimmer, in dem die Ärztin ihn warten ließ, um den Oberarzt zu befragen, begann der Mann seinen Amoklauf.

Die Gesundheitssenatorin hat einen Bericht angefordert. Die Betroffenen ÄrztInnen suchen weniger nach Fehlern als nach Ursachen.

Die naheliegende Frage: Warum nimmt man denn nicht jemanden auf, der selbst kommt, weil er sich nicht mehr kontrollieren kann? hat der zuständige Oberarzt Dr. Peter Halfmeier plausibel beantwortet: Kranke kämpfen häufig um den weiteren Aufenthalt in der Klinik. Aber je

länger er dauert, um so schwieriger wird es, ihre Abhängigkeit von der Klinik zu durchbrechen.

Dieser Fall wirft grundsätzlich die Frage nach dem Stand der Psychiatriereform auf. In Bremen wurde, orientiert am Triestiner Vorbild, die Klinik Blankenburg als Pflegestation für Langzeitkranke aufgelöst, um diesen Kranken mehr Selbstständigkeit und ein menschliches Leben zu ermöglichen. Wie weit das in betreuten Wohngemeinschaften geschehen sollte, war ein Streitfall. Was aber ist, wenn etliche Langzeitkranke wie dieser, der 14mal in der Psychiatrie war, lieber „drinnen“ als „draußen“ sein wollen? Wenn der Kampf um das „Drinnen“ so dringlich ist, daß dafür im Extremfall sogar Menschen niedergestochen werden. Warum bewahrt man Menschen, die erprobtermaßen nicht frei sondern anstaltsverwahrt leben wollen, nicht in der Klinik auf?

Die Frage so zu stellen heißt, den Stand der Reform nicht begriffen zu haben. Das wurde mir klar, als ich sie Dr. Halfmeier stellte. In der Klinik aufbewahren, sagt er, sei möglich gewesen, als die Kliniken noch Pflegestationen für Langzeitpatienten gehabt hätten. Heute geht es also auch für LangzeitpatientInnen darum, sie grundsäätzlich, auf „Draußen“ zu verweisen. Die Frage ist bloß, auf was für eins.

Eine kleine Umfrage zwischen Klinik und sozialpsychiatrischen Stationen der Stadtteile zeigt allgemeine Angst, daß dieser Fall als Argument gegen die Reform verwendet werden könnte. Am deutlichsten sagt es Dr. Klaus Pramann, jetzt frei praktizierender Psychiater, vordem Promotor der Auflösung der Blankenburger Klinik: „Ein reaktionärer Gedanke wäre, daraus abzuleiten, daß die Langzeitabteilungen doch notwendig sind.“ Aber er konzediert: „Sicher, ein Fall wie dieser ist eher denkbar in einer Pschiat

rie, die die Langzeitbereiche einschmilzt. Aber Einzelfälle, wo Leute, die so unliebsam waren, daß man sie entlassen hat, wiederkamen, hat es auch früher gegeben.“

Denkbar und möglich ist es, bestätigt auch Dr. Halfmeier, daß ein Langzeitpatient entlassen wird, ohne daß er draußen eine gesicherte oder gar betreute Wohn- oder Lebensalternative hat. Die Klinik kann hier nur Angebote machen, sagt Dr. Halfmeier, es kann passieren, daß jemand sie nicht annimmt. Auch

der Sozialarbeiter beim sozialpsychistrischen Dienst Mitte, Brockmann, bestätigt: Ob nach der Klinik jemand in eine betreute Wohngemeinschaft, „nach Hause“, in eine Tagesklinik oder in eins der „Übergangswohnheime“, der de facto -Pflegestationen, geht, enscheidet sich in Zusammenarbeit zwischen Klinik, Patient/in und sozialpsychiatrischem Dienst. Wenn sich jemand aber dem entziehe, weil er trotzig gegen die Psychiatrie sei, dann müsse man das respektieren.

Die Frage, ob es Struktur

schwächen zwischen dem „Drinnen“ und „Draußen“ gibt, die das hartnäckige Klammern von Patientinnen an die Klinik plausibel machen, sagt Brockmann: „Es gibt keine strukturellen Schwachstellen. Die Schwachstelle ist der Patient.“ Peter Halfmeier sieht eine Schwachstelle und möchte, daß die Klinik in kritischen Fällen auch außerhalb weiterbetreuen kann. Er fordert deshalb seit langem eine psychiatrische Ambulanz.

Klaus Pramann („Auflösung“ wird oft falsch verstanden, daß das heißt Alleingelassenwerden. Alleinlassen ist ein Verbrechen“) denkt genau in die andere Richtung: „Es wäre eine Frage der politischen Entscheidung zu sagen: Das Krankenhaus soll aufgelöst werden, also ganz, und die Hilfen draußen sollen in Rangordnung und Gewichtung wichtiger sein als das Krankenhaus. Jetzt ist es ja umgekehrt, das Krankenhaus hat immer das Sagen und bestimmt auch draußen, wie die Leute arbeiten und wohnen sollen und wieviel Betreuung sie kriegen. Wenn das Schwergewicht andersrum wäre und die Entscheidung wären draußen getroffen worden und die Klinik wäre nur noch die Instanz, mit einem Menschen in einer bestimmten Situation umzugehen, dann wäre diesem Menschen anders geholfen worden.“

Uta Stolle