„Du hast mir gar nichts zu sagen!“

■ Immer mehr Kinder haben Stiefmutter oder Stiefvater / Kinderschutzzentrum bietet Hilfen an

„Mein Kind klaut, läuft weg, droht mit Selbstmord!“

„Ich fühle mich hin -und hergerissen zwischen meinen Kindern und meinem Partner und kann keinem gerecht werden.“

Das sind Aussagen von Müttern, die beim Kinderschutzzentrum in Bremen anrufen und um Hilfe bitten. Aber auch Kinder suchen Rat: Weil sie sich als Fußabtreter fühlen, geschlagen werden, es zu Hause nicht mehr aushalten.

50 Prozent der Anrufe kommen aus Stieffamilien. Nach der Scheidung und einer Phase des Alleinseins ist ein neuer Vater oder eine neue Mutter in die Familie gekommen und bringt vielleicht eigene Kinder mit. Das ist

längst nichts besonderes mehr. Jede dritte neugegeschlossene Ehe wird in der Bundesrepublik wieder geschieden, rund 1,5 Millionen Stieffamilien gibt es bereits. Aber die Stieffamilie ist immer noch ein Tabu.

„Im Vertrauen: eigentlich ist er gar nicht der richtige Vater.“ So werden die FamilientherapeutInnen in das Geheimnis eingeweiht. Grimms Märchen sitzen in unseren Köpfen fest: Die „normale Familie“, das sind Mutter, Vater, eigene Kinder. Das glauben auch die Stieffamilienmitglieder selbst. Unter dem Druck, richtige Familie spielen zu müssen, entstehen Konkurrenz, Schuldgefühle, Überfürsorge,

Ablehnung, Streit.

„Der soll sich bloß nicht als mein Papa aufspielen“ ist die typische Aussage von einem Kind, dessen Stiefvater sich -vielleicht übertrieben - bemüht, ein guter Vater zu sein, der sich dauernd aufdrängt mit Spielen, Hilfen, Zärtlichkeiten. Und wahrscheinlich gibt es noch einen anderen Papa, nämlich den „richtigen“, der alle vierzehn Tage seine Existenz ins Gedächtnis ruft. Der ist ganz anders und interessiert sich nicht für Fußballspielen und Schwimmengehen. „Darf ich den neuen Papa überhaupt liebhaben“, fragen sich die Kinder, „tue ich meinem richtigen Papa damit nicht weh? “

Stiefmütter haben es noch schwerer als Stiefväter. Sie fühlen sich mehr als die Väter verantwortlich für das Familienglück. Die Rolle der Schlichterin überfordert sie, die echte Zuneigung reicht noch nicht aus und schlägt in das Gegenteil um.

Zündstoff steckt auch in den eingespielten Familien -Gewohnheiten: Wie ordentlich muß es im Haus sein? Muß man zum Essen pünktlich sein? Verschiedene Selbstverständlichkeiten prallen aufeinander. Erziehungsstrategien müssen neu ausgelotet werden. Wenn Kinder den neuen Partner der Mutter oder die neue Frau des Vaters ohnehin als Bedrohung empfinden - hier können sie ihre ganze kindliche Macht ausspielen: „Du hast mir gar nichts zu sagen!“ Hintergrund dafür ist die mehr oder weniger bewußte Hoffnung, den Eindringling mitsamt seine „doofen“ Kindern wieder loszuwerden. Diese Belastungsproben halten die neuen Ehebeziehungen oft nicht aus.

Für die Gefahr, daß die neue Familie wieder zerbrechen könnte, sind die trennungserfahrenen Stieffamilien sensibel. Deshalb ist bei ihnen die Schwelle, professionelle Hilfe in

Anspruch zu nehmen, niedriger als bei anderen Familien. Die drei familientherapeutisch ausgebildete PsychologInnen und SozialarbeiterInnen vom Kinderschutzzentrum arbeiten zur Zeit mit den großen und kleinen Mitgliedern von insgesamt elf Familien. „Zu Anfang stellen wir die Beziehungen in der Familie mit Bauklötzen nach,“ erklärt der Psychologe Rainer Martin. Oder die Familienmitglieder müssen die Beziehungen zueinander als lebende „Skulpturen“ darstellen. Darüber kommen die TherapeutInnen den Konflikten näher. Familientherapeutin Brigitte Berauer: „Schon die dreijährigen Kinder geben sehr aufschlußreiche Dinge von sich: wenn sie wütend werden, einen Elternteil trösten wollen oder plötzlich das Gespräch lauthals stören.“ Ziel ist es, daß alle ihre Stieffamilie als Chance und Bereicherung erleben können. Denn sind erstmal die überschäumenden negativen Emotionen geklärt, wird den Beteiligten klar, wie vorteilhaft es sein kann, viele Lebensformen kennenzulernen und viele Mütter, Väter, Geschwister und Verwandte zu haben. Beate Ram

Kinderschutzzentrum, Vor dem Steintor , Telefon 700037