„... und man hörte von sonderbaren Vorfällen, die sich häuften...“

■ Eine Berliner Feldforschung von Olga O'Groschen

Wie der Berlinredaktion kürzlich zugetragen wurde, fand Ende letzten Jahres ein Ereignis bisher ungeklärten Ausmaßes statt, dessen Vorgeschichte unsere Autorin hier rekonstruiert. Der/die geneigte Leser/in mag selbst versuchen, die mysteriösen Anzeichen zu deuten.

Erster Teil: Sommer

Eine merkwürdige Unruhe bemächtigt sich der Stadt im Juli und August. Ein ungewöhnlich heißer Sommer schüttelt Berlin durch, hält die Straßen, Häuser, Parks, Fabriken im unerbittlichen Griff. Die Bevölkerung fürchtet sich. Weiß nicht, wovor. Es ist so heiß, so stickig. Man greift verstärkt zum Leitungswasser, genehmigt sich ein Glas nach dem anderen. Viele Leute gehen schwimmen, liegen am Tegeler See, am Schlachtensee, am Lohmühlenufer. Die seltsame Stimmung werden sie nicht los. Sie fühlen sich leicht und verletztlich. Und man hört von sonderbaren Vorfällen, die sich häufen. Jeder kennt solche Geschichten. Man tuschelt darüber hinter vorgehaltener Hand, vertraut nur den engsten Freunden.

Einmal, so heißt es, habe sich die Moderatorin der Berliner Abendschau mitten in der Sendung zu entkleiden begonnen. Flink huschen ihre Finger an ihrem Hemd hoch, knöpfen behende, die Frau redet währenddessen wie gewöhnlich weiter, scheint sich der Ungeheuerlichkeit ihres Benehmens gar nicht bewußt. Reißt sich dann mit raschen, beherzten Bewegungen das Hemd vom Leib, den schwarzen Bstenhalter nach, steht dann nach und verlockend, streichelt sich sanft lächelnd. Da erst schwenkt die Kamera weg. Zu spät, nätürlich viel zu spät. Tausende von empörten Telefonanrufen, hunderttausende sind es. Eine spontane Demonstration von aufgebrachten Charlottenburger Müttern schließt sich am selben Abend auf dem Theodor-Heuß-Platz an. Fackelträgerinnen halten eine Mahnwache die ganze Nacht lang. Anderntags wird die unglaubliche Szene von allen anderen Fernsehsendern genüßlich wiederholt, dabei wird Berlin natürlich immer wieder genannt. So etwas schadet dem Ruf der Stadt, bundesweit und weltweit. Aber es kommen ja auch zustimmende Briefe und Anrufe von den Berliner Zuschauern. Endlich werde etwas geboten, darauf habe man lange gewartet. Die Adressen dieser Leute werden vorbeugend dem Polizeicomputer des Sittlichkeitsdezernats eingespeist. Von der Moderatorin und dem Kameramann fehlen seitdem jede Spur. Die Sache gerät bei den meisten Berlinern in Vergessenheit, auch wenn manche noch in den Nächten Mahnwachen auf dem Heuß-Platz halten. Andere Vorfälle und Skandale erhitzen die BerlinerInnen, halten sie in Atem. Im Abgeordnetenhaus soll es zu einer Saalschlacht gekommen sein, nachdem vier Abgeordnete der „Republikaner“ beim Elefantenspiel erwischt worden sind. Fraktionsübergreifend schließen sich die Frauen aller Parteien zusammen, kämpfen angeblich wie besessen, trotz aller Mahnungen und Deeskalationsversuche des Präsidenten Wohlrabe. Sie gehen mit Tränengas, Stricknadeln, schweren Aktenordnern auf alle männlichen Politiker los, weil auch Sozialdemokraten und Christdemokraten nur verklemmt gegrinst haben, als die Sache aufgeflogen ist. Offiziell wird das alles natürlich dementiert, nachsetzende Reporter werden kurzerhand aus dem Rathaus Schöneberg geworfen. Die Berliner tuscheln trotzdem. Auch weitere unschöne Szenen werden mitgeteilt. Beispielsweise von BVG-Nachtbusfahrern, die ihre Busse samt Fahrgäste nach Lübars lenken, und dann ohne Erklärung über die Felder verschwinden. Nachprüfen lassen sich all diese Geschichten nicht. Doch es rumort in der Stadt.

Die Bewohner von Schöneberg, Kreuzberg, Moabit und Wilmersdorf fallen in diesem Sommer schon frühmorgens aus ihren Betten. Ab sechs Uhr in der Frühe knatten Bagger und Preßlufthämmer in ihren Straßen. Es ist ein ungeheurer Lärm. Die Straßenbauarbeiter sind nicht aus Berlin, antworten nicht auf die erregten Fragen, was das solle. Zwei Stunden lang schuften sie wie wild, reißen die Asphaltdecke auf, schachten Gräben aus, schleppen Rohre an. Dann setzen sie sich zum Frühstück, trinken viel, ja unmäßig, und werden bald darauf schläfrig. Sie sind in Wohnheimen am äußersten Stadtrand angesiedelt worden, unten in Buckow, müssen morgens um halb vier aufstehen. Sie sehnen sich zurück nach West-Deutschland, verfluchen die Arbeitsverträge, die sie im Vollrausch unterschrieben haben. Aber jeden Morgen beginnen sie pünktlich um sechs Uhr mit ihren Preßlufthämmern zu arbeiten. Die Berliner halten das nicht aus.

Viele versuchen daher, aus Berlin zu entkommen. Sie packen in fliegender Hast ihre Wagen voll, scheuchen die Kinder zum nächsten Supermarkt, um Vorräte zu holen, geben ihre Hunde im Lankwitzer Tierheim ab und fahren bei Einfall der Dämmerung los. Doch schon vor der Grenzübergangsstelle Dreilinden nehmen die Familienväter das Gas weg, trödeln unlustig der Grenze entgegen, möchten jetzt schon eine Pause einlegen. Auf den Rücksitzen jammern die Kinder. Viele kehren wieder um. Andere Familien kommen bis Helmstedt durch, aber seit der Transitraststätte Michendorf sitzt ihnen die Panik im Genick. Es ist ein Sog zurück. Sie ächzen wie Verdurstende, kneten die Hände, können doch aber nicht mitten auf der Transitstrecke wenden. Erst kurz vor Helmstedt atmen sie auf, lachen sich etwas verschämt an, ob man nicht doch lieber die Reise um ein paar Tage verschieben möchte. Der Sommer in Berlin sei so schön. Sie kehren dann entschlossen um, werden oft noch wegen überhöhter Geschwindigkeit von den Volkspolizisten zur Kasse gebeten, aber das stecken sie ohne Weiteres weg. Ein seltsames Lächeln liegt auf ihren Gesichtern. Sie alle fluten zurück. Bevölkern ihre Wohnungen wieder, als sei nie ein Drang fort gewesen. Man geht den Nachbarn aus dem Weg. Freut sich kindlich, wieder in Berlin zu sein. Die merkwürdige Furcht aber bleibt in ihnen.

In den Berliner Randbezirken drängen die Einwohner in die Kirchen und Gottesdienste. Kommen oft schon am Dienstagabend wieder, um gemeinsam zu singen und zu beten. In Britz kommt es zu Tumulten, als an einem Sonntag 200 Leute vor der Tür bleiben müssen. Die eilig installierte Lautsprecheranlage, die die Predigt nach draußen übertragen soll, funktioniert nicht, und wird dann wütend umgerissen. Mit Sprechchören fordern sie Einlaß. Man habe ein Recht auf kirchliche Betreuung. Man zahle schließlich seit Jahrzehnten Kirchensteuer, möchte nun die Einrichtungen nutzen. Die Pfarrer sind ratlos. Ihre anfängliche Freude über den Zuspruch weicht einem leisen Grauen. Sie können die erwartungsvollen Menschen, die Tag für Tag an ihren Lippen hängen, nicht befriedigen. Sind selbst von einer schrecklichen Unruhe getrieben, ringen nachts verzweifelt die Hände. Manche verwerfen Gott, schämen sich, schließen sich ein. Andere stürzen sich auf das Buch Hiob. „Mein Fleisch ist um und um eine Beute des Gewürms und faulig, meine Haut ist verschrumpft und voller Eiter. Meine Tage sind schneller dahingeflogen als ein Weberschiffchen und sind vergangen ohne Hoffnung.“ Unten in den Stuhlreihen nicken sie seufzend zu diesen Worten, pressen die Schenkel gegeneinander. Anderntags sind die Leute wieder da, wollen wissen, was nun. Vielen Pfarrern stehen die Tränen in den Augen, als auch sie hilflos mit den Schultern zucken müssen.

Es bilden sich Sekten in allen Bezirken. Nicht nur aus kirchlichen Kreisen, sie wuchern überall wild aus dem Boden. Man trifft sich in Hinterzimmern, auf Hinterhöfen, auf stillen Feldern am Stadtrand. Manche Gruppierungen verbieten den Genuß von Leitungswasser, Schokolade, Wirsingkohl. Für zwei, drei Tage hilft das den Suchenden. Dann zittert es wieder durch sie, diese fürchterliche drängende Unruhe und Angst. Am Samstag ziehen sie hinaus zum Olympiastadion zu Hertha und brüllen sich die Seele aus dem Leib. Auf den Wochenmärkten am Paul-Lincke-Ufer, Hermannplatz, Winterfeldtplatz kommt es immer wieder zu erregten Wortwechseln. Hausfrauen zetern über die Bananenpreise, hasten mit wirren Augen, aufgelöstem Haar zum nächsten Stand. Die Marktleute sind einander spinnefeind, schütteln oft die Fäuste gegeneinander. Vielerorts brechen Leute unvermittelt in Tränen aus, darunter auch gestandene Männer.

In den U-Bahnen steht oft ein Mann, eine Frau, ein Schulkind auf. Schaum vor dem Mund, sich hinkrümmend. Man gewöhnt sich rasch an solche Szenen, ist froh, daß es nicht einen selbst erwischt hat. In Vollmondnächten ziehen Tausende von Berlinern an die Mauer, überall in der Stadt. Sie stehen vor dem Brandenburger Tor, am Checkpoint Charlie, am Mariannenplatz, an der Eberswalder Straße und an der Harzer Straße. Trommeln sich die Fäuste an der Mauer blutig, sie wissen nicht warum. Etwas wird kommen aus dem Osten, das fühlen sie. Sie haben eine unaussprechliche Angst. So geht es den ganzen Juli und August.

Zweiter Teil: Herbst

Anfang Oktober 1989 wird die Spannung in Berlin nahezu unerträglich. Es hat sich eingeregnet. Nan bestellt Kohlen. Richtet sich auf einen langen Winter ein. Die wenigsten BerlinerInnen sind noch arbeitswillig. Es kommt häufig zu Streitereien am Arbeitsplatz aus den nichtigsten Anlässen. Und doch versucht man, äußerlich die Fassung zu bewahren, den alltäglichen Geschäften nachzugehen, sich nichts anmerken zu lassen. Viele DDR-Bürger, die über Ungarn, Polen oder die Tschechoslowakei geflohen sind, siedeln nichtsahnend nach West-Berlin über. Turnhallen werden für sie bereitgestellt, was bei den benachteiligten Flüchtlingen aus Polen, Pakistan und Ghana rasch für böses Blut sorgt. Viele der Ex-Ostler kleiden sich beharrlich in braune Cordhosen, bleiben unter sich, laufen nachts an der Mauer entlang und singen ihre Einheitslieder. Man schüttelt den Kopf über diese Leute, auch wenn es einem selbst nicht besser geht.

Die AL-Delegierten, die im Koalitionsausschuß gegen die Stromtrasse fighten, fühlen sich zunehmend ausgelaugt. Von der Basis mißverstanden. Niemand liebt sie. Wenn sie am Heinrichplatz in die „Rote Harfe“ ausgehen, werden sie oft angepöbelt, ihre Autoreifen aufgeschlitzt. Und im Rathaus müssen sie eine Kröte nach der anderen schlucken. Dabei wollten sie doch so viel erreichen. Die Stadt in aller Ruhe ökologisch umbauen. Beton verhindern, Grünzonen und Bauernhöfe anlegen, Höfe entkernen, Flächen entsiegeln. Statt dessen trampeln alle auf ihnen herum. Vor diesem Leidensdruck flüchten viele nach Ost-Berlin. Bei den abendlichen Versammlungen in der Gethsemane-Kirche können sie sich herrlich entspannen, finden sie wieder zu sich. Die Lieder, die Kerzen, die Wärme, das genießen sie.

In der taz sitzen die Damen der Berlin-Kultur unruhig auf ihren Drehstühlen, werden am Telefon oft unvermittelt ausfallend und zickig. Dann schämen sie sich, vergeben großzügige Aufträge. Manchmal legt eine den Kopf auf ihre Ellenbogen und weint leise vor sich hin. Die anderen trösten, so gut es eben geht. An einigen Tagen starren sie gemeinsam aus dem Fenster, in den trüben grauen Himmel über der Kochstraße. Sie wünschen, sie hätten einen Fernsehapparat hier und könnten sich wenigstens das Kinderprogramm ansehen. Oben in der Sportredaktion ganz ähnliche Abstürze. Die sonst so eifrigen Redakteure tagträumen, sie beide würden bei St. Pauli im Mittelfeld spielen und mit der Mannschaft einen UEFA-Cup-Platz erreichen. Sie denken sich Traumpässe, herrliche Spielzüge aus. Bei den Kollegen gegenüber im Springerhaus kommt es unter dem Einfluß von Alkohol zu weitaus schlimmeren Ausfällen. Kurz vor Redaktionsschluß werden die Artikel dann in höchster Eile zusammengekloppt.

Unruhe herrscht auch bei den Berliner Börsenmaklern und Immobilienhändlern. Viele Zahnärzte arbeiten tranig. Sie bohren minutenlang an einer kariösen Stelle herum, nutzen ihre verschiedenen Instrumente, beugen sich immer wieder über den stöhnenden Patienten, lassen den Bohrer dann nochmals aufsurren. Insgeheim träumen sie vom Winterurlaub auf Kuba. Beim Chemiekonzern Schering im Wedding stürzt man von einer Verzweiflung in die nächste. Die Studenten und Arbeitslosen, die als Testpersonen verpflichtet worden sind, reagieren völlig widersprüchlich auf die neuentwickelten Präparate. Die Placebo-Gruppe zeigt allerstärkste Allergien, dunkelgrüne Hautausschläge und zeitweilige geistige Umnachtung. Die Präparat-Gruppe dagegen scheint einen unerklärlichen Hang zu Süßigkeiten zu entwickeln, die Medikamente schlagen sonst bei ihnen überhaupt nicht an. Man rätselt. Wer frühmorgens um vier Uhr am Zoologischen Garten vorbeigeht, hört die Elefanten ängstlich trompeten. Die Giraffen schrecken dann hoch, strecken ihre langen Hälse und kommen nicht wieder zur Ruhe. Am nächsten Tag sehen sie stark übernächtigt aus, stehen unsicher auf ihren dünnen Beinen. Viele Tiere verweigern das Futter.

In Leipzig und Dresden rufen sie längst: „Wir bleiben hier“. In Ost-Berlin rüstet die Führung für die große Oktoberfeier und den Besuch Gorbatschows, während in der Gethsemane-Kirche gepredigt und gesungen wird. Kerzen flackern vor dem Portal die ganze Nacht durch. Im Politbüro sitzt spätabends der Genosse Egon Krenz bei einer Flasche Wein und zerbricht sich den dröhnenden Kopf, wie er Honecker loswerden könnte.

Im Westteil der Stadt tritt die BVG-Reform in Kraft, was für viel Verwirrung im Straßenverkehr sorgt. Niemand kennt sich mit diesen Busspuren aus, die meisten Berliner Fahrzeugführer brettern wie gehabt drauflos. Die Schwarzfahrer in den U- und S-Bahnen müssen jetzt sechzig Mark berappen, wenn sie erwischt werden. Viele von ihnen regen sich auf, das sei ja wohl die totale Sauerei. Außerdem agieren die BVG-Kontrolleure jetzt zunehemend in Zivil. Drei Männer versuchen in Lankwitz, einen Antiquitätenhändler zu entführen. Als sie ihn zum präparierten Kleinbus schleppen, wehrt sich der Mann plötzlich, zieht dann eine Pistole. So haben die drei sich das nicht vorgestellt. Sie rennen in Panik weg. Ihr Opfer immer hinterher. In der Kanalisation vermehren sich fast schlagartig die dort hausenden Ratten. Man beobachtet ganz fremdartige Populationen. Es sind sehr dicke und gemütliche Tiere, die sich nur wenig bewegen. Meist dämmern sie in einem der dunklen schlüpfrigen Gewölbe unter dem Asphalt vor sich hin und blinzeln träge. An Nahrung scheint es ihnen nicht zu fehlen, auch vermehren sie sich gern. Sie kennen keine Furcht, bringen sich nicht vor den anrückenden Reinigungstrupps in Sicherheit. Sie liegen in der Nähe der weggurgelnden Abwässer, setzen kaum Fell an, schwimmen flink wie Otter durch die trübe Brühe. Es sind eigentlich ganz gutartige Tiere, wenn sie sich nur nicht so schnell vermehren würden. Ende Oktober kommen dann die ersten nach oben, sie quellen zu Hunderten und Tausenden ans Tageslicht, zwinkern erstaunt mit den kleinen Äuglein und verdrücken sich in die Keller der Mietshäuser. In manchen Nächten wachen die Berliner vom Trippeln der abertausend flinken Füßchen auf, wenn sie einen neuen Hinterhof erobern. Eine wimmelnde Masse ist das. Die Hunde in ihren Körbchen wimmern kläglich, sie heulen jetzt öfter den Mond an, lassen sich von Frauchen nicht mehr so leicht beruhigen. Manchmal hilft nur viel Baldrian.

Dritter Teil: November

Der November kommt. Draußen ist es schon unangenehm kalt. Aber in den Berlinern köchelt es weiter. Seit dem Sommer, eigentlich schon das ganze Jahr über, tragen sie diese Hitze mit sich herum, es wird nicht besser. Aus allen Familien hört man Klatschgeschichten über jähe Zerwürfnisse. Langjährige Nachbarn verkehren nur noch über ihre Rechtsanwälte miteinander, verwüsten sich gegenseitig die Vorgärten. Nach wenigen Tagen ist alles vergessen, man liegt sich schluchzend in den Armen. Auch kleine Kinder werden rasch mürrisch und feindselig. Sie quälen ihre Geschwister nach allen Regeln der Kunst, belügen systematisch ihre Eltern und Lehrer. Sie werfen am Mittagstisch mit Spinat, kippen ihre Brotsuppe auf das Familiensofa. Bei Ermahnungen lachen sie ihren Müttern frech ins Gesicht.

Unbescholtene Ehemänner verlassen ihre Frauen, treiben sich als Berber am Bahnhof Zoo herum. Bei vielen anderen Leuten macht sich ein starker Appetit auf Zuckerwatte und Süißgkeiten allgemein bemerkbar. Abends gehen einige Berliner leise wimmernd durch die Straßen Schönebergs, die Nasen und Münder suchend vorgestreckt, sie bleiben oft stundenlang vor einem Schaufenster stehen. Warmes Wasser rinnt ihre Beine herunter, sie merken es nicht. Ganze Straßenzüge verkommen. Die Zahl derer, die sich nicht mehr waschen noch kämmen, die weder ihre Zähne putzen noch die Kleidung wechseln, nimmt rapide zu. Küchenabfälle werden aus dem Fenster gekippt, verunglückte Fahrzeuge mitten auf der Fahrbahn stehengelassen. Man verliert jegliches Interesse, knabbert stundenlang beim Einkaufen an den Fingernägeln. Dann geht ein Ruck durch die Menschen, sie bekommen blitzende Augen, reden laut und sicher, lachen gern. In vielen Laubenkolonien werden noch im November heiße Grillparties veranstaltet.

Die Entscheidungen des Senats werden immer undurchsichtiger, aber man kann auch nicht alles den AL -Chaoten in die Schuhe schieben. Die wöchentlichen Telefonate zwischen Walter Momper und Helmut Kohl arten immer wieder in wüste Beschimpfungen aus. Man sucht die Spannungen zu vertuschen. Nachbohrende Journalisten werden beschwichtigt. Sozialdemokratische Abgeordnete bestellen sich plötzlich die Werke von Lenin und Stalin, Ulbrichts Schriften und Honeckers Autobiographie, alles auf Kosten der Steuerzahler. Aber auch die Opposition ist zerrüttet. In rechten Kreisen denkt man bereits konkret über die Möglichkeiten eines Putsches nach. Die Polizei stünde hinter ihnen, wahrscheinlich auch Post und BVG. Zu diesen geheimen Gesprächen trifft man sich in verschwiemelten Schmargendorfer Kneipen mit Oben-Ohne-Bedienung. Schon munkelt man im Bundesgebiet, denkt in Führungsgremien offen über eine Abnabelung von West-Berlin nach. Es kommen nur noch ganz wenige Berliner als Touristen nach West -Deutschland. Sie sind dann auch nicht so großmäulig wie sonst, sondern kleinlaut und verschreckt.

Der Zusammenhalt in der Stadt wird größer, trotz aller aufbrechenden Anfeindungen. Es bilden sich neue Vereine, die abends gemeinsam den Himmel betrachten. Auch in regnerischen Nächten stehen sie da, große schwarze Regenschirme über ihren Köpfen. Andere Gruppen treffen sich zu spirituellen Sitzungen, anfangs noch unsicher und ungläubig. Dann hören sie die Stimmen aus dem Jenseits, die sie warnen. Noch vor Jahresende werde in Berlin alles umgekrempelt. Unheimliche Menschenströme sollen dann durch die Stadt fluten. Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück. Die Leute schaudern bei diesen Worten zusammen. Halten sich still bei den Händen, können noch nicht nach Hause gehen. Was wird mit uns. Diese pulsierende Wärme, die jähe Hitze. In anderen Zirkeln peitschen sie einander aus, mit besonderen Birkenruten, die tief in die Haut schneiden. Sie jammern und flehen. Beginnen dann mit stoßendem Atem und ganz fremden Stimmen zu reden. Nimmt man die unheimlichen Sätze auf ein Tonband auf, ist nachher kein Wort mehr zu hören. In Neuköllner Kneipen steigt der Bierkonsum in schwindelerregende Höhen. Acht Liter pro Besucher am Abend sind keine Seltenheit. Auch diese Menschen bleiben viele Stunden, müssen um sechs Uhr morgens hinausgetragen werden. Kaum jemand wagt noch, das Urban-Krankenhaus zu betreten. Einem freien Mitarbeiter der taz gelingt es, eine Nacht dort zu verbringen. Im Artikel werden unglaubliche Szenen geschildert, die Patienten hätten die Herrschaft übernommen, die Ärzte, Krankenschwestern und Küchenhilfen eingeschlossen. Grausige Einzelheiten aus der Pathologie, angeblich seien Leichen wieder erwacht, bleich die Treppe hochgetappt. Der taz-Mitarbeiter wird am nächsten Tag in die Bonhoeffer-Nervenklinik eingewiesen, er brabbelt unkontrolliert, weint stundenlang. Die Ärzte sind erschüttert. Der Tempelhofer Damm muß nach schweren Auffahrunfällen in beiden Fahrtrichtungen gesperrt werden. Tempelhof, Mariendorf und Marienfelde sehen sich abgeschnitten vom restlichen Berlin. Ihre dringenden Protestnoten an das Rathaus Schöneberg werden ungeöffnet zurückgeschickt. Daraufhin erklären sie sich für unabhängig, bilden einen eigenen Senat. Man knüpft diplomatische Beziehungen zu Spandau. Auf den Straßen marodieren Motorradbanden und einzelne Autofahrer, die den nahenden Untergang rascher herbeiführen wollen. Eine dumpfe Stille lastet über der ganzen Stadt.

(Auszug aus einem noch unveröffentlichten Roman mit dem vorläufigen Titel „Berliner Dröhnung“.)