Rote Laterne in der Nacht

■ 5. Internationaler Nachtlauf des TSV Wittenau

Reinickendorf. Jenseits des Tales standen ihre Zelte. Am Fuße der Rodelbahn Lübars trafen sich am Samstag abend Hunderte von JoggerInnen, um auf den Einbruch der „langen Nacht von Reinickendorf“ zu warten. Eine idyllische Startrampe für diese fünfte internationale Umrundung des Märkischen Viertels, denke ich, als ich den Start- und Zielraum des 13 Kilometer langen Rennens betrete.

„Einmal nachmelden bitte“, zwitschere ich einem Helfer des TSV Wittenau ins Ohr. Wie ein Maschinengewehr kontert er: „Wie alt bist du, Vorname, für welchen Verein startest du?“ Ich bin perplex, entrichte meinen Obulus und lege mich in die spätabendliche Sonne, um Bratwurst vom Rost und Carpendale vom Band zu genießen.

Ehrlich gesagt, sonderlich motiviert bin ich nicht. Frühmorgens noch war ich durch den ozongeschwängerten Treptower Stadtpark getigert, auf der Suche nach genügend Luft für den baldigen Marathon. Beim 5. Nachtlauf von Wittenau, das hatte ich mir vorgenommen, will ich das gesamte Feld vor mir herjagen. Berlin at night aus der Sicht der Roten Laterne.

Punkt 21 Uhr, es dämmert mir, zerreißt ein Böller die Stille der hereinbrechenden Nacht - Startschuß. Über 1.000 Nachtfalter flattern los, bleiben aber bereits in der ersten Kurve im Stau stecken. Erst allmählich kommt wieder Bewegung ins Volk. Wie eine Stampede beim Büffelauftrieb in Bielefeld wirbeln die 2.000 Beine Staub auf. Hinter diesem Wall aus Schwebeteilchen erkennt man bereits die Silhouette des MV, die uns wenig später in sich aufnimmt. Am Wilhelmsruher Damm werden bereits alle meine Pläne über den Haufen geworfen. Unfreiwillig bohrt sich meine Startnummer immer tiefer ins gesicherte Mittelfeld, weil mir von vorne Dutzende LäuferInnen mit dem Rücken entgegenkommen: japsend, die Hände in die schmerzende Seite gestemmt, gebeutelt von einem zu hohen Anfangstempo.

Also ändere ich Lauftaktik und -stil. An der Finsterwalder Straße drehe ich eine zweieinhalbfache Pirouette und latsche 100 Meter im Rückwärtsgang. Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein! Vielleicht ist es aber auch schon zu dunkel. Kann eigentlich nicht sein, denn ich orte jede/n zurückfallende/n KollegIn und kann stets geschickt ausweichen. Da bestätigt mich ein unflätiger Schrei vom Straßenrand. „Mach hinne, du Spinner, die bauen sonst das Ziel ab“, bellt ein Anrainer mit Hund, der das nächtliche Treiben aus der Sicht des Cholerikers verfolgt. Gerade will ich ihn belehren, daß er um diese Zeit längst ins Bett gehöre, da sehe ich ein riesiges Boxervieh an seiner strammen Leine hängen und laufe nicht mehr andersrum. Es wird Nacht im Märkischen Viertel. Mehrgeschossig fällt das Licht auf die JoggerInnen, die sich durch Busse und ungeduldige Autofahrer fädeln müssen. Aus den gutbesuchten Kneipen dringen Tips nach draußen, wie man schneller ins Ziel kommen könne. Da ich den BVG-Plan sehr gut kenne, bin ich bestrebt, möglichst vielen LäuferInnen meinen Rücken mit der mir Kraft verleihenden Aufschrift zu zeigen. „Hier überholt Sie...“ „Sehr witzig, echt!“ meint eine Frau meines Alters, die bereits Mühe hat, das linke Bein mit dem rechten Schwungarm zu synchronisieren. Inzwischen ist es völlig dunkel geworden.

Die Erkenntnis, daß wir nun in die Wittenauer Straße einbiegen, verdanken wir einem früheren Pfadfinder. Gemein wie ich bin, lasse ich Mister Falk-Plan hinter mir und kämpfe mit „Finisher des 11. Deutschen Sparkasen-Marathons Berlin 1988“ um die beste Poolposition für den Endspurt. Fast eine Stunde ist mittlerweile vergangen, meine Beine werden müde vom ständigen Rhythmuswechsel von Jambus nach Trochäus.

Ein Duft von Jauche, der sich mit den sphärischen Klängen der Tanzkapelle am Ziel vermischt, weist uns den letzten Weg. Durch das Spalier verzückter WittenauerInnen zerreiße ich das imaginäre Zielband, die elektronische Stoppuhr zeigt, welche Stunde geschlagen hat. Nach exakt einer Stunde und 35 Sekunden pflücke ich mir einige Packungen Duschgel aus der Sponsorenkiste. Wo die Duschen sind? „Haben wir keine“, lautet die schlichte Antwort, „aber du kannst da vorne den Rasensprenger benutzen!“ Wenn der nicht schon in die Luft geflogen ist? Also verlasse ich den Tatort ungeduscht, geduzt, aber nicht ausgebuht.

Jürgen Schulz