ZWISCHEN DEN RILLEN

Von Thomas Groß

Als 1989 wieder einmal das Vancouver Folk Festival begangen werden sollte, und das Augenmerk der Weltöffentlichkeit sich auf den bekannten kanadischen Küstenort richtete, hatte Pete „We shall overcome“ Seeger eine Idee. Er forderte den ebenfalls anwesenden Billy Bragg auf, mit ihm die Internationale abzusingen. Nun war das ein Ansinnen, das angesichts der Lage im Mutterland der Revolution und auch sonstwo vielleicht so manchen wackeren Altkommunisten in die Bredouille gebracht hätte. Nicht so Billy. Der schlug freudig ein, ja, er kam sogar mit dem Vorschlag heraus, die etwas angestaubten Lyrics der Hymne behutsam in ein zeitgemäßeres Englisch zu übertragen. Gesagt, getan. Der alte Pete gab seinen Segen, und so nahmen die Dinge ihren Lauf...

Kein seltsamer Traum, keine Dichtung und Wahrheit vermengende Anekdote, sondern eine jener Geschichten, die das Leben schrieb. Mit hörbaren Folgen. Wer damals in Vancouver zufällig verhindert gewesen sein sollte, kann sich das Ergebnis von Billy Braggs Bemühungen dank moderner Schallplattentechnik jetzt auch zu Hause zu Gemüte führen. Mit Pauken und Trompeten geht es gleich los. „Stand up, all victims of oppression/For the tyrants fear your might...“ Marschrhythmen. Fahnen. Furchtlosigkeit. Derart tapfer schreitet Billys Stimme voran, daß besagte Tyrannen schon im Refrain praktisch so gut wie besiegt sind: „So come brothers and sisters/For the struggle carries on/The Internationale/Unites the world in song/So comrades come rally/For this is the time and place/The international ideal/Unites the human race.“

Alle Achtung! Wir bewundern nicht nur das behutsam den zeitgenössischen Realitäten angepaßte Englisch. Der Mann mit dem sympathischen Worker-Akzent läßt auch keinen Moment Zweifel daran aufkommen, daß er das Ding, von dem er singt, durchzuziehen gewillt ist. Ich fühle mich an alte KBW -Papiere erinnert: Programmpunkt 1:Durchführung der Weltrevolution. Programmpunkt 2:Organisierung der Fete in der Aula...Alle reden vom Wetter - der nicht! Nicht einmal bei Zeilen wie „And so begins the final drama/In the streets and in the fields“ ist Billy Braggs Stimme eine andere Röte anzuhören als die der auf Vollmast gehißten roten Flagge.

Tja, soooo soll es wohl sein, sooo soll es sein, so wird es sein - wenn alles nach Plan verläuft (und welcher Kleingeist wollte daran zweifeln??). Spätestens hier also könnte „The Internationale“ und damit auch diese Plattenkritik zu einem historisch guten Ende gebracht sein. Aber es handelt sich um eine Mini-LP, die noch einiges mehr zu bieten hat. Zum Beispiel das a capella gesungene „Nicaragua Nicaraguita“, das Bragg mit einem kraftvoll trotzigen „La lucha continua!“ ausklingen läßt. Oder „I dreamed I saw Phil Ochs last night“ (nach einer bekannten Weise). Oder „The red flag“, ein Streiklied der Londoner Dockarbeiter aus dem Jahre 1889, dessen wechselvolles, teilweise tragisch zu nennendes Schicksal (es wurde, von bösartigen Reformisten mit der Melodie von „Oh Tannenbaum“ versehen, zur Hymne der britischen Labour Party) in den Liner Notes nacherzählt wird. Billy Bragg schöpft aus dem überquellenden Füllhorn revolutionären Liedguts. Selbst „Jerusalem“, ein Gedicht des romantischen Dichters William Blake, das in der Vertonung von Hubert Parry schwer nach Kirchenlied klingt, fällt bei ihm ins Ressort „positives Erbe“, Blake - ein früher Zyniker. Heftige Diskussionen mit trotzkistischen Zeitungsverkäufern am Trafalgar Square, so Bragg, hätten ihn zu der Erkenntnis gebracht.

Eigentlich ist alles falsch an dieser Platte, das Pathos, der Trotz, die Form, der Hintergrund: ein gußeiserner Zahnrad-Kapitalismus mit positiven Helden, hehren Kämpfen und klaren Fronten, wie man ihn nur noch von realsozialistischen Geldscheinen her kennt. Nie und nimmer hat so etwas subversive oder verstörende Qualitäten, es ist berechenbar bis zur letzten Note und bieder wie ein Jugendfilm der DEFA. Und doch mag man Billy irgendwie, ist fasziniert von der vollkommenen Künstlichkeit der Idyllen, in die er nach vorne zurückflüchtet. Da kann man drüber nachdenken: Der linke Traditionalist, im Grunde ein Spießer, wie er im Buche steht, scheint bereits soweit marginalisiert, daß er wieder zum Super-Exoten und Hoffnungsträger wird. Aus solchen Gründen wird der ein oder andere im Winter wohl PDS wählen.

Von ganz anderem Schrot und Korn ist da Dr. Robert. Obwohl auch er sich engagiert gibt: „Wenn du glaubst, daß die menschliche Natur grundlegend schlecht ist und daß man ihr nicht vertrauen kann, daß wir nicht in Frieden und Harmonie zusammenleben können, und wenn du die globale Gemeinschaft des Tanzes verleugnest, die basierend auf einem gemeinsamen Beat und pulsierenden Bass ein gemeinsames Ziel verfolgt, zu befreien, zu erziehen und zu erfreuen, dann wird dich dieses Album kalt lassen. Aber wenn du noch genügend am Leben beteiligt und fähig bist, dich zu ärgern, zu träumen, keine Angst zu haben und keine Rückschläge zu fürchten...teile mit uns die „Früchte der Erde“, daß wir eines Tages den Frühling für die Welt erleben können.“

Das ist natürlich die letzte Quatschkopf-Philosophie, die der Chef der Blow Monkeys uns hier als aufrüttelnde Botschaft einer weltweiten Dance-Community verhökern will. Aber als Mensch, der noch genügend am Leben beteiligt ist, um Pop-Musik zu hören, und der die dabei unvermeidlichen Rückschläge so wenig fürchtet, daß er sich immer wieder von neuem von den meist kindischen Phantasien der in diesem Umfeld beheimateten Individuen gefangennehmen läßt, verzeiht man Dr. Robert seine Spinnereien dann doch wieder. Ob ernst gemeint oder nicht - das hier wird unter „Exzentrik“ verbucht, nicht unter „New Age-Mist“ (wo es eigentlich hingehört).

Warum diese Nachsicht? Weil alles so wahnsinnig übertrieben daherkommt, daß die ohnehin schon angeschlagene Vernunft es einfach im Kopf nicht aushält. Doch, sagt sie mit matter Stimme, er ist schön, dieser blühende Blödsinn, er hat Größe. Und überhaupt: sowas muß man erstmal hinkriegen! Nehmen wir z.B. das Titelstück: ein erstklassiger Schleimsong. Schon das Streicher-Intro fliegt einem bratschenwarm entgegen, keinen Zweifel daran lassend, daß ein Entkommen nicht möglich ist. Es folgt eine unschlagbar hymnische Melodie, die sich allmählich aus den Tiefen eines glück-, weil tanzlosen Lebens emporschraubt, um sich schließlich in verzückten, von Soulschwestern unterstützten I-wanna-take-you-higher-Rufen zu verströmen. Bombastisch! Welcome to the Pleasuredome! So ist die ganze Platte: überproduziert wie ein warmer Frühlingsregen. Soundtröpfchen, Melodieknöspchen, Stimmengewirre und ähnliche Auswüchse allüberall. Post-Acid-House-Rhythmen kreuzen sich hemmungslos mit Funk-Akzenten, und fette Instrumentierungen werden von noch fetteren Vokalarrangements geil überwuchert. Dazwischen plinkert gelegentlich eine absolut deplazierte spanische Gitarre, die deshalb aber schon wieder wie selbstverständlich mitkopuliert.

Peace! Love! Understanding! ächzt es einem entgegen. Das hier ist die Rückkehr der Killer-Botschaft, nicht im Sinne einer erdigen Hippie-Ursprünglichkeit, sondern als Ausgeburt eines schönen, luxuriösen, im Grunde jedoch leicht schwindsüchtigen britischen Dandyherzens. In dieser Musik treibt's jeder mit jedem, und zwar unter den wohlwollenden Augen von Dr. Robert; nur der Chef selbst entspannt sich und trinkt eine Tasse Lipton's. Ist besser für die Gesundheit.

Beste Platte, die Boy George in den letzten 5 Jahren nicht gemacht hat.

Billy Bragg, The Internationale (Utility)

Blow Monkeys

Springtime for the World (RCA) 1990: Wir singen die Internationale