Der schwarze und der weiße Tanz

 ■ Der Kölner „Dancepoint“ erinnerte mit Workshops und

Tanzproduktionen an Alvin Ailey, den bedeutendsten schwarzen Choreographen

Von Meral Rüsing

Wenn auf den Bühnen der Republik der letzte Vorhang zum gähnenden Sommerloch gefallen ist, bricht in Köln das internationale Tanztheaterfieber aus: Das Kölner Tanz-Forum, die Kompanie der städtischen Bühnen, beschließt die Saison mit der Woche des Modernen Tanzes; das Institut für Bühnentanz lädt Dozenten und Tänzer aus aller Welt zur Internationalen Sommerakademie des Tanzes; zahlreiche Kompanien sammeln sich im „Tanzprojekt“, der Schule des Choreographen James Saunders, zum „Tanz-Sommer Köln„; die Philharmonie bläst zum „Broadway Sommer“ (1990 gastierten die Produktionen „Sarafina!“, „A Chorus Line“ und „Harlem Swing“).

In diesem Jahr nun debütierte ein weiteres ehrgeiziges Projekt: Der „Dancepoint Cologne '90“. Mit diesem Workshop beabsichtigen die Veranstalter Pierre de Decker und Claudia Corts („K-Produktion“), in der Domstadt ein allsommerlich stattfindendes Forum zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart des Modernen Tanzes zu etablieren.

In Abstimmung auf ein jeweiliges Schwerpunktthema bietet der „Dancepoint“ seinen Teilnehmern ein zweiwöchiges Training, das durch ein umfangreiches Rahmenprogramm ergänzt wird. Ausstellungen, Video- und Filmreihen, Vorträge und „lecture demonstrations“ der geladenen Dozenten vermitteln professionellen Tänzern wie auch völlig unbedarften Laien weit mehr als den rein tanztechnischen Zugang zum „Dancepoint„-Thema. Ziel sei es, so Mitorganisator Andreas Terhoeven, „eine lebendige Begegnungsstätte für Pädagogen, Choreographen, Tänzer, Kompanien sowie ein breites Publikum zu schaffen.“

“...expanding dance into a general public, to bring them into it, a part of it...“ war auch ein Leitmotiv des Tänzers und Choreographen Alvin Ailey, dessen Premiere des „Dancepoint“ die eindrucksvollste des Festivals war.

Ailey, der letztes Jahr im Dezember gestorben ist, gründete und leitete sowohl die legendäre Kompanie „Alvin Ailey American Dance Theatre“ als auch das „Alvin Ailey American Dance Centre“, eine der renommiertesten Ausbildungsstätten für Tänzer in den USA.

Daß man gleich zum Einstand mit einem so hochkarätigen Lehrstab aufwarten konnte, verdanken die „Dancepoint„-Macher dem Tänzer und Choreographen Paul Haze. Haze, der seine Karriere als Elfjähriger in den Nachtclubs von Harlem begann und unter anderem an der aus dem Kinofilm Fame allseits bekannten Highschool of the Performing Arts in New York studierte, lebt und arbeitet seit 1986 in Köln. Als langjähriger Assistent Alvin Aileys und Lehrer am „Dance Center“ war er es, der die „K-Produktion“ für Ailey und seine New Yorker Kollegen für den Kölner Workshop interessierte.

Alvin Ailey war nicht nur als Schüler einiger der Pioniere des amerikanischen Modern Dance für dessen Weiterentwicklung von entscheidender Bedeutung, sondern verhalf insbesondere dem zeitgenössischen schwarz-amerikanischen Tanz zum Durchbruch. Mit seiner Kompanie schuf er eine „Synthese aus schwarzem Jazzdance, Modern Dance und Klassik, basierend auf der Tradition des schwarzen Tanzes in den USA, aus der Welt der Music-Halls und Vaudeville-Shows“, beschreibt „Dancepoint„-Referent Andreas Terhoeven.

Der bedeutendste schwarze Choreograph

Allerdings, betont Paul Haze, habe Ailey sich „nicht primär als schwarzer Tänzer definiert. Aber er war der Erste, der dem schwarzen Tanz und seinem immensen Einfluß auf die amerikanische Tanzkultur die - durch das weiße Kulturestablishment - so lange verwehrte Anerkennung verschaffte.“ Ailey habe, so Terhoeven weiter, „konsequent und selbstbewußt“ seinem Selbstverständnis Geltung verschafft, „als schwarzer Amerikaner ein Recht auf einen Platz in dieser Gesellschaft zu haben. In diesem Sinne ist auch der Name seines Ensembles „American Dance Theatre“ zu verstehen. Dieser Haltung gemäß integrierte er weiße Tänzer in seine Gruppe und beauftragte weiße Choreographen für seine Kompanie. Als sicherlich der bedeutendste schwarze Choreograph hat er immer versucht, Brücken zu schlagen, Vermittler zu sein.“

Den entscheidenden Impuls für seine Entwicklung als Tänzer und Choreograph erhielt der 1931 in Rogers, Texas, geborene Ailey durch die Begegnung mit dem Choreographen Lester Horton.

Horton, den strengen Bewegungskanon des klassischen Balletts als Fessel empfindend, erarbeitete seit Mitte der 20er Jahre eine der grundlegenden Techniken des Modern Dance. Von seinen Tänzern und Schülern (keine Frauen dabei? d.S.), die die Technik des klassischen Balletts ebenso beherrschen wie die von Horton entwickelten rhythmischen Prinzipien und Bewegungsabläufe, verlangte er jedoch mehr als „bloß“ tänzerische Qualitäten: Die Mitglieder seiner Kompanie wurden außerdem in Musiktheorie, Bühnenbild, Kostümentwurf, Lichttechnik, Gebrauch von Requisiten und Schauspiel unterwiesen. Diese umfassenden Fähigkeiten waren die Grundlage für das von Horton entwickelte „movement design“.

Ebenso umfassend und neuartig für den Bühnentanz wie Hortons Technik war auch die von ihm bearbeitete Themenvielfalt. „Sie reichten vom Klassischen zum Zeitgenössischen, von der Farce zum Melodram, vom sozialen Protest zum Frivolen“ (Truitte).

Athletik und Ästhetik

Lester Horton war auch einer der ersten weißen Choreographen, die ihre Kompanie für farbige Tänzer öffneten. Für Alvin Ailey repräsentierte sein Lehrer zeit seines Lebens „die ideale Verbindung von Athletik und Ästhetik. Ihm verdanke ich es, das mir entsprechende künstlerische Ausdrucksmittel gefunden zu haben: den Modern Dance.“

Von weiterem zentralen Einfluß auf das spätere choreographische Werk Aileys war die Arbeit Martha Grahams, einer Art Übermutter des zeitgenössischen amerikanischen Tanzes. Die heute 96jährige Choreographin und Tänzerin, Gründerin der Martha Graham Company wie auch der Martha Graham School of Contemporary Dance in New York, entwickelte während der vergangenen fünzig Jahre die wohl ausgefeilteste und anerkannteste Technik des Modern Dance. Die entrang ihrem Körper die Zauberformel des „contraction and release“, ihre Studien führten zu einer völlig neuartigen Atemtechnik, die ihren Schülern (und Schülerinnen? d.S.) zur Herausbildung eines extrem kraftvollen Körperzentrums als Ursprung und Motor eines jeden Bewegungsablaufs verhalf. Zur Veranschaulichung sei hier ein weiteres Ergebnis ihrer revolutionären Experimente beschrieben: Hollywoods Westernheld Gregory Peck lernte durch Martha Grahams Sturztechnik, im Falle eines gegnerischen Volltreffers aus dem Bauch heraus und im Zeitlupentempo möglichst pittoresk in den staubigen Tod zu sinken.

Doch Graham erlangte nicht nur durch ihre Technik Weltruf: Auch in ihrer Choreographie schlug sich jene beklemmende Intensität ihrer Persönlichkeit nieder; vermochte sie ihre Tänzer in tiefste Abgründe zu stürzen oder zu ihrem Ideal eines „Himmelsakrobaten“ zu erheben. Der Martha Graham Company entwuchsen in drei von ihr geformten Tänzergenerationen so wegweisende Choreographen des amerikanischen Tanztheaters wie Paul Taylor, Merce Cunningham - und Alvin Ailey.

Folgte Ailey der Maxime „to break down barriers“ (Paul Haze), so suchte er nicht nur nach Anknüpfungspunkten zwischen dem Erbe des klassischen Balletts und der tänzerischen Avantgarde. Als Afro-Amerikanier fühlte Ailey sich auch der Weiterentwicklung der großen Tradition des schwarzen Tanzes in den USA verpflichtet. Paul Haze: „Who would, if we didn't?“

Katherine Dunham

So führte Aileys Weg in den 50er Jahren zwangsläufig zu der Pionierin des afro-amerikanischen Tanzes schlechthin - der farbigen Tänzerin, Choreographin und Ethnologin Katherine Dunham. Dunham, 1912 in der Nähe von Chicago geboren, gründete 1931 das erste „Ballet Negres“ der USA und in Folge die „Negro Dance Group“, welche 1937 in New York debütierte (beide Kompanien standen übrigens auch weißen Tänzern offen). 1931 produzierte sie ihr erstes bedeutendes Werk Negro Rhapsody; mit dem 1940 uraufgeführten Jazztanzstück Tropics and Le Jazz Hot (Untertitel: „From Haiti to Harlem“) erzwang sie als erste farbige Choreographin die Anerkennung durch die Kritik. „John Martin, Kritiker der 'New York Times‘ und Nestor der amerikanischen Tanzpublizistik, stellte fest: Hier handelte es sich um das erste Bühnentanz-Kunstwerk, das nicht nur afro-amerikanische Themen behandelte, sondern auch afro -amerikanische Tanztechniken einsetzte.“ (Andreas Terhoeven in 'ballett international‘).

Quelle der choreographischen Arbeit Dunhams bleiben bis heute Technik und Wesen der afro-karibischen Tänze, die sie zwischen 1945 und 1954 an ihrer eigenen Schule lehrte. Das Programm der Dunham-School räumte auch endgültig mit dem ignorant-rassistischen, jedoch gängigen Vorurteil auf, der Tanz afrikanischer Herkunft kultiviere insbesondere die Fähigkeiten eines wilden Tanzbären (“...die Neger haben's ja im Blut...“). „Wir wollen ein durchtrainiertes Ballettensemble schaffen. Dafür brauchen wir eine Technik, die für schwarze ebenso wichtig ist wie für weiße Tänzer. Unser Ziel ist es, eine Position in der Tanzwelt zu erreichen, die den jungen schwarzen Tänzern Mut für ihre Arbeit gibt. Wir wollen mit unserem Tanz aus den Klischees der exotischen Burleske ausbrechen. Nur so können wir eine eigene schwarze Tanzkunst schaffen“, schrieb Katherine Dunham.

Zu den berühmtesten Schülern Dunhams gehören die Sängerin Eartha Kitt, der Choreograph Peter Gennaro, Mitarbeiter von Jerome Robbins und Leonard Bernstein an der West Side Story, der Schauspieler Marlon Brando - und Alvin Ailey.

Katherine Dunham gehörte - wie Arthur Mitchell, erster farbiger Solist George Balanchines „New York City Balletts“

-zu jener Handvoll schwarzer Künstler, welche sich nicht mehr durch Hintertüren oder Lieferanteneingänge auf die Bühne stehlen mußten, um das weiße Publikum in der ersten Reihe zu erstaunen. Und in Folge sollte auch Dunhams Forderung, daß talentierte, exzellent ausgebildete schwarze Tänzer einen eigenständigen Platz im zeitgenössischen amerikanischen Tanztheater erlangen, Früchte zeigen.

Die erste Jazzdance Company der USA

1958 gründete Walter Nicks die erste Jazzdance Company der USA. Im selben Jahr debütierte Alvin Ailey mit seinem „Alvin Ailey American Dance Theatre“ in New York. Während der folgenden dreißig Jahre entwickelte sich aus dem zunächst siebenköpfigen Ensemble eine dreißig Mitglieder umfassende Kompanie, der Ailey als künstlerischer Direktor und leitender Choreograph vorstand.

Mehr als vierzig Choreographen schufen über 150 Stücke für die Company, die weltweit von etwa fünfzehn Millionen Zuschauern erlebt wurde. Zu den künstlerischen Höhepunkten der Kompanie zählen die Vorstellungen 1968 anläßlich des „First World Festival of Negro Art“ in Dakar (Senegal). 1970 gab die Ailey-Truppe als erste amerikanische „company of contemporary dance“ seit den Tagen der legendären Isadore Duncan Gastspiele in der Sowjetunion.

Auch Alvin Ailey bescherte der Erfolg in Europa den Durchbruch in den USA: Seit 1968 absolvierte die Truppe eine jährliche Saison in New York. Spätestens seit Mitte der 70er Jahre gehört die Kompanie zu den kulturellen Prestigeobjekten der USA. Anläßlich der 200-Jahr-Feiern der Vereinigten Staaten choreographierte Ailey ein Sonderprogramm für das New York State Theatre, Lincoln Center. Unter dem Motto „Ailey Celebrates Ellington“ kreierte er fünfzehn Stücke zur Musik Duke Ellingtons - „a landmark in the history of American Dance“, wie die Kritiker anschließend befanden.

Das „Alvin Ailey American Dance Theatre“ wird Aileys Arbeit fortsetzen; Judith Jamison, langjährige Solistin der Ailey Kompanie mit anschließender eigener Choreographen-Karriere, übernahm die künstlerische Leitung.

Um den Nachwuchs sorgten sich beim „Dancepoint Cologne“ namhafte Dozenten wie die Graham-Stars Jeanne Ruddy und Denise Jefferson - seit 1980 Direktorin der Ailey-Schule -; die Horton-Techniker Julio Enrique Rivera und Milton Myers (letzterer unterwies schon das Bolschoi Ballett im „movement design“). Weitere Kurse gaben Rochelle Zide-Booth, vormals Primaballerina des New York City Opera Balletts; der Broadway-Tänzer Fred C. Mann und Paul Haze als Vertreter des Jazz; die grandiose Carmencita Romero, 76, einstige Solistin der Dunham Company.

Dieses fabulöse Ensemble vermittelte den Schülern nicht nur die „basics“ (Ruddy) der Aileyschen Arbeit, sondern konfrontierte sie zudem mit den Standardanforderungen einer New Yorker Tanzausbildung. „Daß die modernen Kompanien in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik vornehmlich mit ausländischen Tänzern besetzt sind“, analysiert Paul Haze, „liegt vor allem an der hier noch überwiegend praktizierten eindimensionalen Ausbildung. Da die Schülern auf Sparten wie Klassik oder Modern festgelegt werden, genügen sie zumeist nicht den technisch übergreifenden Ansprüchen moderner Choreographen.“ Aber eine der sich international durchsetzenden, auch von Ailey verfochtenen Erkenntnisse lautet: „A dancer must be able to dance, whether it is modern or classical, jazz or ethnics. It's as simple as that“, resümiert Haze und betont noch einmal: „Break down barriers!“

Getreu dieser Überzeugung empfinden sich Tänzer und Choreographen wie Haze als eine Art Entwicklungshelfer des Modernen Tanzes in Europa. „Für uns ist es ausgesprochen reizvoll, hier zu arbeiten, bietet sich doch noch ein weites Feld, das es zu beackern gilt.“ In diesem Sinne entschloß sich der Choreograph Haze, den es 1986 durch einen Lehrauftrag des Kölner Tanz-Forums an den Rhein verschlug, die Idee der eigenen Kompanie nicht „als Nummer 395 in New York“, sondern unter dem Namen „Phaze 1“ in der Domstadt zu verwirklichen.

Daß der „Dancepoint„-Pate insbesondere Köln als ein entwicklungsfähiges Terrain in Sachen Moderner Tanz einschätzt, scheint folgerichtig. Schließlich wurde mit der Gründung des Kölner Tanzforums Ende der sechziger Jahre eines der ersten Zentren für den experimentellen Bühnentanz im klassikbeherrschten Nachkriegsdeutschland geschaffen. Der von 1968 bis Anfang der achtziger Jahre stattfindende Kölner Choreographenwettbewerb war Treffpunkt für Größen des modernen deutschen Tanztheaters wie Pina Bausch oder den Erfinder des „Choreographischen Theater“, Hans Kresnik.

Ob die zwar pluralistisch schillernde, jedoch durch allerlei Sensibilitäten und interne Zwistigkeiten singularisierte Szene sich wieder näherkommt, und ob der „Dancepoint“ nicht bloß ein einmaliger Glücksfall war, werden erst die nächsten Monate zeigen. Fest steht jedenfalls, daß der Kölner Tanzsommer 1990 sich statt in träge Augusthitze zu verflüchtigen mit lange vermißten Frühlingsgefühlen und einer leise sich regenden Aufbruchstimmung verabschiedet.