„Ein Prozent der Lohnsumme für die Umwelt“

■ taz-Gespräch mit Walter Riester, Bezirksleiter der IG Metall in Stuttgart / Nach der diesjährigen Tarifrunde muß sich die Gewerkschaft verstärkt um das Thema Leistungsbegrenzung - „Ein Tabu bei den Arbeitgebern“ - kümmern / Giftstoffe am Arbeitsplatz breites Feld für künftige Tarifforderungen

taz: Die diesjährige Tarifrunde der IG Metall ist gelaufen; mit der 35-Stunden-Woche ist die zentrale gewerkschaftliche Forderung der 80er Jahre unter Dach und Fach. Setzt der Göppinger Tarifabschluß einen vorläufigen Schlußpunkt unter die Arbeitszeitverkürzung?

Walter Riester: Was die tarifliche Regelung anbelangt: sicherlich. Der Tarifvertrag läuft bis 1998. Was allerdings die Auseinandersetzung um die Gestaltung der Arbeitszeit und das Verhältnis von Arbeitzeit und freier Zeit, von Erwerbsarbeit und Familienarbeit anbelangt, stehen wir erst am Anfang. Die intensive Diskussion, die sich in den Gewerkschaften um die Arbeitzeit entwickelt hat, bietet die Grundlage, hier weiterzumachen.

Welche Prioritäten wird die IG Metall darüber hinaus bei der Tarifpolitik der 90er Jahre setzen?

Es wird immer wichtiger, daß wir uns verstärkt um die Frage der Arbeits- und Leistungsbedingungen kümmern. Schon im Vorfeld der diesjährigen Tarifrunde haben viele bei uns gesagt, wenn nicht humane Arbeits- und Leitungsbedingungen gesichert werden, bestehe die Gefahr, daß die Arbeitszeitverkürzung auf den Knochen der Beschäftigten ausgetragen werde.

Die Zauberformel Flexibilisierung ist für die Arbeitgeber die entscheidende Strategie für die 90er Jahre. Im Gegensatz zur urspünglichen Intention der IG Metall, wonach praktisch niemand länger als 35 Stunden arbeiten sollte, ist der Tarifabschluß ausgesprochen flexibel. Für 18 Prozent der Beschäftigten kann eine wöchentliche Arbeitzeit bis zu 40 Stunden vereinbart werden. Wird damit die Schleuse zur Zwangsdifferenzierung geöffnet?

Die Beschäftigten haben tarifvertraglich das Recht, dies abzulehnen. Wenn sie es annehmen, können sie wählen, ob sie freie Zeit oder eine Bezahlung für die längere Arbeitzeit wollen. Das ist das Gegenteil einer Zwangsdifferenzierung.

Ist es nicht anmaßend, die Arbeitszeit strikt reglementieren zu wollen, wo das doch immer mehr ArbeitnehmerInnen selbst bestimmen wollen?

Erstmals Heimarbeit im

Tarifvertrag berücksichtigt

Wir dürfen das nicht schwarz-weiß sehen. Wir müssen zukünftig weiterhin klare kollektive Regelungen schaffen, die Sicherheit geben, und in deren Rahmen gleichzeitig die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen stärker berücksichtigen. Und wir müssen deren Rechtsposition so stärken, daß sie ihre individuellen Interessen tatsächlich realisieren können. Ich bin sehr froh um die Diskussion, denn sie ist in den Gewerkschaften notwenig und längst überfällig - nicht nur, was die Frage der Arbeitszeitgestaltung angeht.

Umbrüche in den Sozialbeziehungen haben zu einer Vielfalt der Lebenstile geführt. Müssen nicht gerade moderne Gewerkschaften den Wünschen der ArbeitnehmerInnen nach größerer Zeitsouveränität mehr als bislang Rechnung tragen?

Ja, aber das hat auch Grenzen - dort, wo die individuelle Durchsetzung der Wünsche des Einzelnen direkt oder indirekt zu Lasten anderer geht. Ein Beispiel: Wenn die Wahl von 40 -Stunden-Verträgen in einer Abteilung dazu führt, daß in anderen Abteilungen Mehrarbeit auftritt und dort die Arbeitsbelastung erhöht, muß sich die Gewerkschaft gegen solche Lösungen aussprechen.

Im Rahmen des allgemeinen Wertewandels hat sich doch auch die Einstellung zur Arbeit verändert. Individualisierungs und Emanzipationsprozesse in der Arbeitswelt wurden von den Gewerkschaften - im Gegensatz etwa zu neokonservativen Kräften - als Gefährdung der Normalarbeitsverhältnisse und der kollektiven Vertragsorganisation angesehen. Ist mit dem Tarifvertrag ein gordischer Knoten geplatzt?

Ausgehend von dem vielleicht als Fiktion stehenden Begriff des Normalarbeitsverhältnisses haben sich die Gewerkschaften erstmal um die zunehmende Zerfranzung der Arbeitsverhältnisse gekümmert. Ich halte es für unbedingt notwendig, daß die Frage entrechtlichter Arbeitsverhältnisse, beispielsweise Leiharbeit, oder Arbeitsverhältnisse unterhalb der Sozialversicherungspflichtgrenze Thema von Tarifvereinbarungen wird. In den Geltungsbereich des jetzigen Tarifvertrags sind erstmals HeimarbeiterInnen aufgenommen, was viele nur als „peanuts“ begriffen haben. Wir müssen hier einerseits Sicherheit schaffen, wo ungeschützte Arbeitsverhältnisse zunehmend entrechtlicht werden, gleichzeitig uns aber mehr Gedanken machen über die Vielfältigkeit der Ansprüche und Möglichkeiten deren Realisierung. Die Verbindung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit gehört genau so dazu wie Erwerbsarbeit und Selbstverwirklichung bei der Eigenarbeit.

Wie können Gewerkschaften diese Erosion der Normalarbeitsverhältnisse positiv besetzen?

IG Metall durch Frauen lebendiger geworden

Wir müssen den verengten Begiff des Normalarbeitsverhältnisses erweitern. Dahinter verbirgt sich doch der Gedanke des vollzeitbeschäftigten, männlichen Arbeitnehmers, der im Erwerbsleben für die Familie sorgt. Dieser verengte Blick muß breiter gefaßt werden und Arbeitsverhältnisse aufnehmen, die den berechtigten Interessen und auch Zwängen der Beschäftigten entsprechen. Und wir dürfen uns Begiffe aus der Interessenlage der Gegenseite nicht aufdrängen lassen.

Gerade Frauen wollen die ihnen traditionell zugewiesene Rolle in Familie und Arbeitswelt nicht länger hinnehmen. Die Kritik der Frauen an den patriarchalischen Strukturen richtet sich berechtigterweise nicht nur gegen Männerdomänen und Benachteiligungen am Arbeitsplatz, sondern auch gegen gewerkschaftliche Tarifpolitik, die solche Strukturen zementieren.

Diese Kritik hat bei uns einen für mich sehr produktiven Prozeß ausgelöst. In den Tarifverhandlungen im Südwesten haben wir deshalb Forderungen wie Freistellung für Erziehungszeiten für wahlweise beide Elternteile oder Qualifizierung an Teilzeitarbeitsplätzen aufgenommen. Wir haben jetzt auch einen größeren Anteil von Frauen in der Tarifkommission. Insgesamt ist die Politik in der IG Metall durch den stärkeren Einfluß der Kolleginnen lebendiger geworden.

Aber Anspruch auf Kindererziehung, tarifliche Wiedereinstellungsgarantien oder Teilzeitarbeit mit Rückkehrmöglichkeit auf einen Vollzeitarbeitsplatz kann doch bei frauenspezifische Forderungen nicht alles sein...

Ein anderes Beispiel: Wir haben im Lohn- und Gehaltsrahmentarif vor zwei Jahren durchgesetzt, typische Belastungen in unteren Lohngruppen wie Monotonie am Arbeitplatz, soziale Isolation und Streß bei der Eingruppierung, höher zu bewerten. Der Großteil solcher Arbeitsplätze ist von Frauen besetzt. Bei der Umsetzung haben wir bei der Eingruppierung ganz bewußt den Schwerpunkt auf die unteren Lohngruppen bei den Frauen gelegt. Dadurch wurden allein in Baden-Württemberg Zehntausende von Frauenarbeitsplätzen höher gruppiert - ein Vorgang, der öffentlich kaum bekannt ist. Und wir haben im absoluten Niemandsland der Qualifizierung angesetzt, nämlich bei den Montagearbeiterinnen. Wir setzten hier Schwerpunkte, weil hier die stärkste Vertretung notwendig ist. Das sind erste Impulse, erwachsen aus der konstruktiven Unruhe und produktiven Kritik der Frauen.

Zukünftiger Regelungsbedarf besteht auch im Bereich der Qualifizierung - nicht zuletzt durch erweiterte Anforderungen und veränderte Tätigkeitsspektren.

In Baden-Württemberg haben wir schon länger vereinbart, daß jedes Metallunternehmen jährlich seinen Qualifikationsbedarf dem Betriebsrat offenlegen muß; auf dieser Grundlage soll dann qualifiziert werden, und zwar bezahlt und während der Arbeitszeit. Das hört sich alles gut an. Wir haben aber bei der Umsetzung festgestellt, daß es in den Betrieben so gut wie keine Personal- und Qualifizierungspolitik gibt. Deshalb müssen wir als erstes Strukturen in Betrieben entwickeln, damit die tariflichen Vereinbarungen auch umgesetzt werden. In den nächsten Jahren wird es zur gravierenden Arbeitsteilung mit tiefen Umstrukturierungsprozessen in Europa kommen - zu einer Verlagerung einfacher Tätigkeiten in andere europäische Staaten, und hier wird man die Produktion auf Produkte und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung konzentrieren. Läuft diese Arbeitsteilung ab, ohne von einer systematischen Qualifizierungs- und regionalen Strukturpolitik begleitet zu sein, sind die MassenarbeiterInnen die VerliererInnen.

Wird damit der postulierte Facharbeitermangel gelöst, den wohl ernsthaft auch in den Gewerkschaften niemand mehr abstreiten kann?

Von der Metallindustrie nichts mehr gehört

Wir haben in der Tarifrunde eine sehr produktive Auseinandersetzung um den Fachkräftemangel geführt - in dem sich die Argumentation der Arbeitgeber als Rohrkrepierer gezeigt hat. Nachdem ich auf unserer Fachkräftekonferenz im Februar eine Clearingstelle vorgeschlagen habe, kam das Argument nicht mehr. In eine solche Clearingstelle unter Beteiligung von Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Arbeitsverwaltung soll der Bedarf an Fachkräften und Qualifikationen, aber auch die Interessen von Arbeitslosen und Berufswechlsern eingebracht werden. Dann können wir offen und transparent vor der Gesellschaft sagen, so sieht die Situation am Arbeitmarkt aus. Ich habe daraufhin vom Verband der Metallindustrie ein Schreiben erhalten, sie würden das Konzept auf ihrer nächsten Vorstandssitzung beraten. Seitdem habe ich nichts mehr davon gehört. Wir werden aber weiter drücken, denn hier müssen alle gesellschaftlichen Kräfte ran.

Also auch die Bildungspolitik...

Sicher ist die Frage einer systematischen Weiterqualifizierung ein wenig im Windschatten der Bildungspolitik gelaufen. Ich bin mir unsicher, ob wir mit einer starken Betonung auf die betriebliche Weiterbildung den öffentlichen Auftrag in den Hintergrund treten lassen. Hier im Land haben wir ja einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit das Wort für die Struktur- und Qualifizierungspolitik führt. Leider sind es nur Worte. So etwas konkret umzusetzen und die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, sehe ich leider auch in Baden-Württemberg nicht. Der Mittelstand etwa braucht hier mehr Unterstützung. Späth hat vor einigen Jahren in einem Gespräch zu mir gesagt, die Gewerkschaften müßten endlich den Schwerpunkt Qualifizierung in der Tarifpolitik angehen. Wir haben es gemacht, nur von Späth habe ich seither nichts mehr gehört.

Das Thema Leistungsbegrenzung soll ja im Mittelpunkt der Tarifpolitik der 90er Jahre stehen. Die Arbeitgeber haben soeben eine IG-Metall-Forderung nach abteilungsbezogenen Mindest- beziehungsweise Sollbesetzungen in den Betrieben vom Tisch gefegt.

Bei dieser Ablehnung wird es wohl auch bleiben, auf der Gegenseite besteht in dieser Frage ein absolutes Tabu. Wir müssen diese Tabuisierung der Mitbestimmung - und um die geht es hier letzten Endes - hier aufbrechen. Die Gewerkschaften müssen nicht nur den Streit um eine leistungsadäquate Entlohnung aufnehmen, sondern auch selbst die Auseinandersetzung um den Umfang der Leistung aufnehmen.

Hierzulande wird leistungslohnbezogen gearbeitet. Wie bitteschön will die IG Metall den Beschäftigten denn klarmachen, auf Leistungen und damit auf mehr Geld zu verzichten?

Mich hat schon vor 15 Jahren der im Rahmen der Fiat -Auseinandersetzungen geprägte Ansatz der italienischen Gewerkschaften fasziniert, den Leistungslohn abzubauen. Seine Abschaffung hat dort dazu geführt, daß die Auseinandersetzung um die Leistung kollekiv vorangetrieben werden konnte, weil die innere Konkurrenz nicht mehr da war, mehr als der andere zu verdienen. Ich halte den Ansatz zwar nicht für übertragbar; wir werden sicherlich im Leistungslohn bleiben. Aber wir müssen in der Tarifpolitik dahin kommen, beim Endgeldniveau eine Sicherung zu erzielen, die uns ermöglicht, die Auseinandersetzung um die Leistungsanforderungen aufzunehmen.

Mit zusammenhängendem Freizeitausgleich und Pausenregelungen, wie jetzt von der Postgewerkschaft durchgesetzt, ist es doch wohl nicht getan...

„Wir müssen auch Angestellte gewinnen“

Bezahlte Erholzeiten während der Arbeitzeit sind ein wichtige Grundlage. Damit ist es aber wirklich nicht getan. Es muß das Arbeitsvolumen, das während der Arbeitszeit zu akzeptieren ist, mit einbezogen werden.

Am gravierendsten ist die Leistungsverdichtung im Angestelltenbereich. Dort werden massenhaft unbezahlte Überstunden gefahren. Warum unternimmt die Gewerkschaft hier so gut wie nichts?

Die Angestellten sind stark isoliert und dadurch betrieblichen Entscheidungen oft hilflos ausgeliefert. Für uns wird es ganz wichtig sein, auch Angestellte mit Durchsetzungsvermögen für gewerkschaftliche Betriebsarbeit zu gewinnen. Und eine tarifpolitische Voraussetzung wird sein, Angestellte wesentlich stärker noch als Arbeiter in die Gestaltung von Forderungen einzubeziehen. Mir schwebt vor, eine breite Diskussion auch bei nichtorganisierten Angestellten zu initiieren.

Das verlangt aber doch, daß die Einzelnen mehr mitbestimmen und nicht alles für sie geregelt wird.

Klar, der Einzelne und der Betriebsrat müssen stärkere Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte bekommen. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Tarifverträge nur so gut sind, wie sie in der betrieblichen Praxis umgesetzt werden. Steinkühler hat beispielsweise im Zusammenhang mit der jetzt vereinbahrten Öffnung bei der Arbeitszeitregelung, hinter der er voll steht, an die Diskussion um den 1973 von ihm im Südwesten geschlossenen Lohnrahmentarif2 erinnert. Damals gab es massive Kritik in der IG Metall, weil die Betriebsräte diesen Tarifvertrag an vielen Stellen mit Betriebsvereinbarungen ausgestalten konnten. Das würde die Gestaltungsmacht der IG Metall auf die Betriebsräte delegieren, wurde uns entgegengehalten. Aber wir haben davon nur profitiert.

Warum hat die IG Metall so viel Angst vor einem angeblichen „Betriebssyndikalismus“?

Die Anliegen von Gewerkschaften sind zwangsläufig, gemeinsam Dinge durchzusetzen. Und die negative Erfahrung dabei ist, daß Spaltung schwächt. Politisch gesehen müssen unter veränderten Bedingungen daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden. Für mich heißt das, daß eine lebendige Gewerkschaft mehr dialektische Spannung zwischen kollektiven und individuellen Interessen braucht.

Mehr Spielraum bei der tarifliche Ausgestaltung auf der betrieblichen Ebene verlangt doch ein Stück Basisdemokratie?

Natürlich. Nur dort, wo Betriebsvereinbarungen in betrieblichen Auseinandersetzungen mit den Beschäftigten entstanden, werden sie mitgetragen und umgesetzt. Wir haben genug Betriebsvereinbarungen, die nicht mehr wert sind als ein Stück Papier. Ein anderes Beispiel aus der Tarifpolitik: 1982 habe ich im Rahmentarifvertrag Süd zu Arbeits- und Leistungsbedingungen ein Reklamationsverfahren für den Einzelnen vorgeschlagen. Die Beschäftigten sollten nach ihrer subjektiven Wahrnehmung ihren Arbeitsplatz beurteilen dürfen. Bei den Arbeitgebern hat das einen Aufschrei ausgelöst; es sei undenkbar, daß subjektive Empfindungen zum Maßstab für Arbeitsgestaltung werden. Doch genau das ist wichtig. Ich habe Tarifpolitik dadurch gelernt, daß ich die Menschen in den Betrieben gefragt habe, was sich denn davon umsetzt. Mit Tarifverträgen konnten die wenigsten Menschen etwas anfangen, das waren für sie abstrakte Normen.

Leistungsverdichtung, erhöhte Anforderungen, mehr Streß und zunehmende Gesundheitsgefährdungen verlangen auch ein Stück Tarifpolitik.

„Verantwortung für die Umwelt muß wachsen“

Vor zwei Jahren haben wir in Stuttgart eine Aktion „Tatort Betrieb“ gestartet. Das war, als Spuren von Per im Olivenöl gefunden wurden. Daß tausende Tonnen von Per und Tri, die nachweislich krebserregend sind, laufend in Metallbetrieben verarbeitet werden, nahm niemand wahr. Daraufhin haben wir die Gefahrstoffe zum Thema einer Kampagne gemacht, die breite Zustimmung gefunden hat. Es war wenig von jener Stimmung zu vernehmen, die den Gewerkschaften nicht zu Unrecht nachsagt, unter dem Primat Arbeitsplätze werde alles in Kauf genommen. Wir haben in vielen Betrieben durchgesetzt, daß die Kaltreiniger durch Alternativverfahren abgelöst wurden. Und wir gehen auch gegen andere Giftstoffe wie Kühl-Schmiermittel, Kleber, Lacke oder Verdünnungen an. Und es kommt eine umweltpolitische Komponente hinzu: Diese Gefahrstoffe werden als industrieller Sondermüll durch die Schornsteine geblasen, auf See verklappt oder in die Böden abgelassen. Die Verantwortung für das, was wir täglich produzieren, muß wachsen. Wir brauchen auch hier unterstützende Strukturen in den Betrieben. In der gesamten Thematik sehe ich ein breites Feld für künftige Tarifforderungen.

Wie könnten solche Forderungen konkret aussehen?

Das sind bisher nur sehr persönliche Überlegungen, beispielsweise tarifpolitisch durchzusetzen, daß ein bestimmter Prozentsatz, etwa ein Prozent der Lohn- und Gehaltssumme in einen gesellschaftlichen Fonds kommt, aus dem heraus Umweltschutzbeauftragte finanziert werden. Deren Bezahlung vom Unternehmen schafft nämlich Abhängigkeiten. Die sollen schon aus dem Betrieb bezahlt werden, aber über einen Fonds. Mit dem Geld könnten Zehntausende Stellen für Umweltberater geschaffen werden. Dadurch entstünde auch eine professionelle Struktur für eine qualifizierte Beratung von Geschäftsleitungen und Arbeitnehmern, wie die Produktionsbedingungen ökologisch verbessert werden könnten. Parallel dazu müßte man paritätisch besetzte Umweltausschüsse in den Betrieben installieren. Wo wirtschaftliche Interessen zum Tragen kommen, wird die Zerstörung der Umwelt oft billigend in Kauf genommen. Da müssen Gewerkschaften massiv ran.

Sind die ganzen tarifpolitischen Überlegungen angesichts der deutschen Einheit nicht Zukunftsmusik - zumindest für die Beschäftigten in der DDR?

Ich befürchte, daß wir in der DDR eine mehrere Jahre dauernde Phase mit starken sozialen Problemen erleben werden. Die Schwerpunkte in der Tarifpolitik müssen dort in einer Kombination zwischen Beschäftigungssicherung und Qualifizierungspolitik für die zukünfige Produktion liegen. Das wird ein schwieriger Ritt, weil ersteres das zweite behindert.

Interview: Erwin Single