Kniefall vor der Großen Bruder

Es war ein so hoffnungsvoller Frühling. Auch am 10.Mai des Jahres 1984. Die Bahnradsportler der DDR radelten im Trainingslager in Tbilissi, die Schwimmer schwammen in Rom beim Wettkampf, die Leichtathleten trainierten zu Hause. Die Sportfunktionäre von DTSB und NOK tagten in Berlin. Alle erfuhren am Abend dieses Tages von dieser Erklärung: „Das Nationale Olympische Komitee der DDR hat in Wahrnehmung seiner Verantwortung für den Schutz der Ehre, der Würde und des Lebens der Sportler...entschieden, nicht an den Spielen der XXIII. Olympiade 1984 in Los Angeles teilzunehmen.“

Die damals vom NOK veröffentlichten Gründen waren: 1.Die Gefährdung der Sicherheit der Sportler der DDR und 2.die Verletzung von Regeln der olympischen Charta. Beide Gründe zusammen sind nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn die Sicherheit der 10.000 Sportler wurde in L.A. von 17.000 Wachleuten garantiert. Außerdem stellten die Organisatoren zusätzlich 4,1 Millionen US-Dollar für spezielle Sicherheitsvorkehrungen bereit. Und dann bestätigt der damalige DTSB- und NOK-Präsident der DDR, Manfred Ewald, das Angebot der Amerikaner an die DDR, eigene Sicherheitskräfte nach Los Angeles einzufliegen.

Bleibt der zweite Grund: Ewald gibt auch in dieser Hinsicht heute eine klare Antwort: „Das Organisationskomitee mit Peter Ueberroth an der Spitze gab sich alle Mühe, die Regeln der olympischen Charta einzuhalten. Die amerikanischen Sportfreunde tragen nicht die Hauptschuld an unserem Boykott.“

Um die wirklichen Hintergründe des sozialistischen Kollektiv-Boykotts zu verstehen, ist ein Blick in die jüngere olympische Geschichte notwendig. Im Eklat der Spiele von Moskau ist auch die Quelle sowjetischer Boykottgedanken zu suchen. L.A.-Organisator Ueberroth mutmaßte im Mai 1984: „Mir ist seit langem klar, wie tief der stupide Carter -Boykott 1980 die Gefühle der Sowjets verletzt hat. Es scheint, als würden wir jetzt dafür bestraft.“ Manfred Ewald erzählt von einer Auswertung der Moskauer Spiele: „Schon damals schlug die Sowjetunion vor, Los Angeles zu boykottieren. 1984 verschärfte sich dann der Druck auf uns mit einem Aufruf zur Solidarität.“

Erwartet wurde ein später Dank für die Hilfe der Sowjetunion in der Zeit, als die DDR auf internationalem Sportparkett Fuß fassen wollte. Übertriebene Dankbarkeit, wie ein genauer Blick in die Historie zeigt. Denn: zwar protestierte die UdSSR oft gegen Startverbote von DDR -Sportlern zu Beginn der 60er Jahre, aber nur zweimal blieb sie mit ihren ostdeutschen Sportfreunden zu Hause. Das war bei der Eishockey-WM 1963 in Colorado Springs (USA) und ein Jahr später bei der Turn-EM der Frauen in Paris.

Der Verlust einer einmaligen Chance

Die DDR-Sportführung kritisierte die Boykottpläne also berechtigt. Sie sah eine einmalige Chance verlorengehen, Sportnation Nummer eins in der Welt zu werden. Studien in den USA, der UdSSR und der DDR hatten nämlich zeitgleich vorausgesagt, daß dieses DDR-Olympiateam den ersten Platz in der offiziellen Länderwertung erreichen könnte. Daraus wurde nun nichts.

Als sich Ende April 1984 dann die Boykottgerüchte verdichteten, wurden in der DDR schon Ersatzvarianten durchgerechnet. Bereits 14 Tage vor der offiziellen Absage wurde die Broschüre mit den Olympiateilnehmern eingezogen und eine Mini-Mannschaft mit 40 absoluten Goldanwärtern nominiert, was neutrale Sportfunktionäre wie der stellvertretende Generalsekretär des schwedischen NOK, Wolf Lyberg, begrüßten. Aber auch diese minimierten Olympiaträume starben auf dem Schreibtisch Erich Honeckers. Die Politiker hatten ihr Urteil längst gefällt, so daß die entscheidende Mai-Woche glatter Fassadenschwindel war.

7.Mai: In 'Sowjetski Sport‘ fordern Leser erstmals, die Sportler nicht nach Los Angeles zu schicken. Es wäre zu gefährlich.

8.Mai: Das NOK der Sowjetunion beschließt den Boykott. Auf der Ehrentribüne der gerade gestarteten Friedensfahrt der Radamateure teilt Honecker Ewald in Berlin mit, daß auch die DDR nicht fährt.

10.Mai: Die Mitglieder des NOK der DDR beschließen eine vorgefertigte Erklärung ohne Diskussion. Der Boykott steht fest.

Das damals für den Sport zuständige Politbüromitglied der SED, Egon Krenz, gesteht heute in einem Brief an den Autor: „Die Entscheidung von 1984 war gegenüber den Sportlern falsch. Es war damals mehr oder weniger eine Frage der Solidarität.“ Der bundesdeutsche NOK-Präsident Willi Daume bezeichnet beide Boykotts als eindeutige Politikfehler. „Das Gute daran ist höchstens, daß beide Seiten gemerkt haben, daß ein Boykott absolut nichts einbringt. Politisch nicht und sportlich schon gar nicht.“

Was nun in der DDR folgte, war der Versuch der Schadensbegrenzung. „Die Sportler reagierten eigentlich mit großem Verständnis auf unsere Nichtteilnahme“, vermutet Manfred Ewald und liegt damit neben der Wahrheit. In Leipzig befragten nämlich unmittelbar nach der Boykotterklärung Sportpsychologen und -soziologen der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) unter Leitung von Professor Siegfried Müller etwa 100 Olympiakandidaten aus traditionellen Erfolgssportarten der DDR. Heraus kam ein differenziertes Meinungsbild, das Müller so zusammenfaßt: „Die getroffene Entscheidung diszipliniert akzeptiert, aber innerlich zutiefst enttäuscht und deprimiert - in diesem Widerspruch lebten die meisten dieser Sportler.“

Schwacher Trost für

die Enttäuschten

Die Sportführung versuchte, schnellstens Trost zu organisieren. Nach einem Treffen der nationalen Olympischen Komitees der sozialistischen Länder am 24.Mai in Prag wurden internationale Wettkämpfe ausgeschrieben, die einem Olympia -Ersatz gleichkamen. Die Plazierungen wurden wie bei olympischen Wettbewerben prämiert. Für einen Sieg bei diesen „Wettkämpfen der Freundschaft“ gab es also 25.000 Mark und den dazugehörigen Orden. Am Saisonende wurden außerdem alle erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler mit einer Urlausbreise nach Kuba belohnt. „Ich glaube, daß das wichtig, richtig und nützlich war“, glaubt Manfred Ewald noch heute. Dagegen spricht die Leipziger Befragung, denn die Sportwissenschaftler sind überzeugt: „Einkleidung, Ersatzwettkämpfe, Geld und Reisen konnten manches glätten, den tiefen Schock der Sportler konnten sie jedoch nicht verhindern.“ Das ist nur logisch, wurden die Olympischen Spiele in der DDR doch jahrelang als das überhaupt Größte und Erstrebenswerteste dargestellt.

Die DHfK-Befragung drang bis heute nie an die Öffentlichkeit. Dem DTSB hat man die Studie nicht vorgelegt, weil es ohnehin chancenlos war, mit psychologischen Argumenten politischen Entscheidungen zu begegnen. So sind die Erkenntnisse der Sportpsychologen nie aus ihren Büros herausgekommen. Dabei hätten sie manche Tollpatschigkeit und Unverschämtheit im Umgang mit den Sportlern verhindern können.

Zum Beispiel die skandalöse Praxis der Veröffentlichung von Sportlermeinungen in der Presse. Die Stimmen wurden tendenziös gekürzt oder vollständig konstruiert abgedruckt. Manfred Ewald bestreitet energisch jede Beteiligung des DTSB an diesen Fälschungen. Damit hat er wohl recht, denn in einem internen Fernschreiben an alle Bezirksagenturen der SED hieß es: „Die von der Nachrichtenagentur 'adn‘ gesendeten Stellungnahmen zur Erklärung des NOK der DDR sind selbstverständlich zur Veröffentlichung frei. Eigenes Material der Zeitungen, eigene Kommentare und Meinungen der Sportler bitten wir bis auf weiteres nicht zu drucken.“ Absender: Joachim Herrman, Ideologiesekretär im SED -Politbüro.

„Die Sportler sind beim Boykott immer die Dummen“, sagte Willi Daume. In Los Angeles fehlten 1984 von den amtierenden Weltmeistern 57,9 Prozent, bei den Weltmeisterinnen gar drei Viertel aller Titelträgerinnen. Der sportliche Schaden war groß. Vier Jahre vorher hatte Erich Honecker noch auf der Auszeichnungsfete der Olympiateilnehmer der Winterspiele von Lake Placid geschimpft: „Es stellt sich überhaupt die Frage, woher Regierende das Recht nehmen, den Sport zum Spielball ihrer Politik zu machen.“