Moderne Galeerensklaverei

■ Das Zweitregister gefährdet die Menschenrechte

Der Fall der vier indischen Seeleute, die um ihre Heuer betrogen wurden und denen man vertraglich den Verzicht auf das Grundrecht der Freizügigkeit abgepreßt hat, ist kein Einzelfall. Mag sein, daß die Reederei Beutler zu den Skrupelloseren in einer Branche zählt, die sich ihre Arbeitskräfte offensichtlich durch organisierten Menschenhandel zuführen läßt, abgewickelt durch dubiose Vermittlungsagenturen in den Hafenstädten der Welt. Aber die Lübecker Reederei praktiziert nur in besonders krasser Form, was in der Branche üblich ist und wofür sie in Bonn jahrelang zugunsten des Zweitregisters Lobbyarbeit geleistet hat: systematische Diskriminierung und Entrechtung ausländischer Arbeitskräfte auf deutschen Schiffen.

Die ÖTV spricht in ihrer Stellungnahme zurecht von „moderner Galeerensklaverei“. Was früher durch Eisenketten erreicht wurde, schaffen die modernen Schiffsbesitzer durch abgepreßte Verträge, über vorenthaltenen Lohn und Zwangsaufenthalt an Bord: die „Gefahr der Flucht“, wie der Vermittlungsagent Rusch zutreffend formuliert, wird vermindert. Und zur „Flucht“ haben die ausländischen Seeleute auf deutschen Zweitregisterschiffen offenbar allen Anlaß. Die deutschen Reeder haben seit der Verabschiedung des Zweitregisters wieder und wieder bewiesen, daß sie die Möglichkeiten dieses Gesetzes ausnutzen, und zwar bis über alle Grenzen des deutschen und internationalen Rechts hinaus.

Die Bundesregierung muß sich fragen lassen, ob sie dies beabsichtigte, als sie Ende 1988 das Zweitregistergesetz gegen viele Widerstände durchgedrückt hat. Es steht zu befürchten, daß die Frage mit „ja“ beantwortet werden muß. Denn die Reeder gehören zu ihrer Klientel, die sie mit Privilegien bedienen muß. Das Privileg besteht in diesem Fall in der Erlaubnis zu hemmungsloser Ausbeutung rechtloser ausländischer Seeleute. Dies, so argumentierten die Reeder seinerzeit mit allerdings wohlgesetzten Worten, sei die einzige Überlebensmöglichkeit der deutschen Seeschiffahrt im internationalen Wettbewerb der Billigflaggen. Die Ausflaggung des Zweitregisterschiffs „Vineta“ beweist, daß nicht einmal diese Argumentation stimmt.

Selbst wenn sie stimmen würde: Grund- und Menschenrechte sind keine Manövriermasse im internationalen Konkurrenzkampf. Da eine Korrektur des Gesetzes von dieser Regierung nicht zu erwarten ist, bleibt nur die Hoffnung auf die von der ÖTV angerufenen Verfassungsrichter in Karlsruhe. Sie müssen dem Skandal auf deutschen Schiffen ein Ende machen, wenn ihnen die Grundrechte auf Gleichbehandlung, Koalitionsrecht und Freizügigkeit auch nur einen Pfifferling wert sind.

Martin Kempe