Schiwkow vor das Volk!

■ Demonstrationen für die Direktübertragung von Schiwkows Aussage vor dem Parlament / Sozialistische Partei in Bedrängnis / Noch keine Aussicht auf Mehrheit bei Neuwahl des Präsidenten

Sofia (afp/taz) - Heftige Demonstrationen und melodramatische Ausbrüche folgten einer Debatte im Parlament zu Sofia. Zur Diskussion stand die Frage, ob die Rechenschaftslegung des ehemals allmächtigen Partei- und Staatspotentaten Todor Schiwkow vor dem Parlament live im Fernsehen übertragen werden sollte, was - unter Abkehr von einer vorher getroffenen Vereinbarung - die oppositionelle Union der Demokratischen Kräfte (UDK) forderte.

Die regierende bulgarische Sozialistische Partei, ein Abkömmling der Kommunistischen Partei und Sieger bei den Wahlen, plädierte für eine Reportage zu einem späteren Zeitpunkt. Redner der Sozialisten äußerten die Befürchtung, Schiwkow werde Staatsgeheimnisse preisgeben. Die Opposition replizierte, darunter seien wohl Enthüllungen über die Verstrickung führender Sozialisten in geheimdienstliche Aktivitäten, Korruption und andere Missetaten zu verstehen.

Während dieser im Rundfunk übertragenen Debatte durchbrachen junge oppositionelle Sofioter, die schon seit Wochen in Zeltcamp „Stadt der Wahrheit“ lagern und den Rücktritt der Exkommunisten fordern, die Absperrungen vor dem Parlamentsgebäude. Sie wurden von Tausenden erboster Bürger unterstützt, die „Wir wollen die Wahrheit“ und „Schiwkow vor das Volk“ skandierten. Nur mühsam gelang es Ministerpräsident Lukanow und den Abgeordneten, aus dem umzingelten Gebäude zu entweichen. Nach der Sitzung trat der Innenminister, General Semerdschjew, zurück. „Leider“, sagte er, „haben mir die Sicherheitsbehörden meine Pistole abgenommen. Sonst würde ich mich jetzt erschießen.“ Dem Rücktritt Semerdschjews aus gekränkter Ehre folgte der des Bürgermeisters von Sofia, Ninow. Die Querelen der letzten Wochen hatten seinen Gesundheitszustand zu sehr mitgenommen.

Der Streit um Schiwkow ramponiert das Ansehen der Sozialisten noch weiter. In der Wirtschaft droht nach dem Einbruch der Versorgungskrise die Hyperinflation. Potentielle westliche Kreditgeber zögern. Innenpolitische Stabilität will sich nicht einstellen. Vor allem die zur Farce gewordene Präsidentenwahl geht zu Lasten der Regierungspartei. Jetzt scheint sie bereit, ihren Kandidaten Kjuranow, einen eher harmlosen Professor, der aber Berater des Schiwkow-Staatsrats gewesen war, zurückzuziehen und einen neuen Kandidaten der Opposition zu unterstützen. Aber die oppositionelle UDK hat noch nicht erkennen lassen, daß sie ihren jetzigen Kandidaten zurückziehen wird.

C.S.