Vertreibung nach 84 Jahren?

■ Hausbesitzer will Mieter trotz Zusage nicht mehr in dem Haus lassen, das er mit öffentlichen Mitteln saniert hat / Bezirksamt und Senat prüfen den Fall: Geldrückforderung erwogen

Kreuzberg. „Das ist ein kleines Paradies, die neue Wohnung“, schwärmt Frau Klingman. Frau Klingman ist eine 96jährige Rentnerin aus Kreuzberg. Seit 1906 wohnt sie in der Eylauer Straße 10 und hat die wechselvolle Geschichte des Hauses zwischen Kreuzberger Viktoriapark und Schöneberger Insel miterlebt. „Vor dem Haus herumstehen verboten“, stand damals auf einem Schild, der „Hausvater“, wie der Vermieter hieß, ging allabendlich durchs Haus und sah nach, ob sich Landstreicher im Keller aufhielten. Nun wurde die Eylauer Straße renoviert, Frau Klingman wurde eine sanierte Wohnung versprochen. Diese liegt einen Stock tiefer - die alte Dame ist nicht mehr so gut zu Fuß - mit Zentralheizung und maßgeschneiderter Küche und mit einer niedrigen Miete. Über all das gibt es eine schriftliche Vereinbarung zwischen der Hauseigentümerin, Edeltrud Vorderwülbecke und dem Bezirksamt Kreuzberg. Der Haken an der Sache: Frau Klingman darf in die Wohnung nicht mehr einziehen. Denn Vorderwülbeckes haben es sich schlicht anders überlegt.

Frau Vorderwülbecke erwarb das Haus 1985 - übrigens von einem Mitarbeiter der Senatsbauverwaltung - und wollte es mit öffentlichen Geldern modernisieren. Dazu schloß ihr Mann, Joachim Friedrich, als ihr Beauftragter einen sogenannten Ordnungsmaßnahmenvertrag mit dem Bezirksamt ab. Darin verpflichtete er sich, die Mieter zu einer festgelegten Miete wieder in eine Wohnung im Haus zu lassen, und kassierte vom Land Berlin über eine Million DM für die Sanierung. Dazu kamen noch etwa 100.000 DM, um den Mietausfall wegen des Leerstands auszugleichen. Die Mieter aus dem Vorderhaus ließen sich freiwillig im Vertrauen auf das Bezirksamt in viel engere Wohnungen ins Hinterhaus umsetzen, vorübergehend, wie ihnen versprochen wurde. Aber die Bauarbeiten kamen nicht voran, vier Jahre wohnten die Mieter auf einer Baustelle. „Bei uns stehen immer noch die Umzugskartons im Flur“, meinte ein Ehepaar. Eine Mieterin wartet mit ihrem Mann und dem Kind, das inzwischen geboren wurde, in einer Einzimmerwohnung auf die versprochene Wohnung im Vorderhaus. Und Frau Klingman haust in einer Parterrewohnung im Hinterhaus - kalt, zugig und schlecht gesichert gegen Einbrecher.

Das wird womöglich so bleiben. Denn Mitte Juli kündigte Vorderwülbecke mündlich gegenüber der Mieterberatung SPAS an, er werde die öffentlichen Gelder zurückzahlen und dann den Vertrag mit dem Land Berlin als gekündigt betrachten. Zu Anfang August werde er die ersten Wohnungen an Mieter seiner Wahl vermieten. Wenn er damit durchkommt, kann er die Miete

-kleines Bonbon nebenbei - sogar mehr als verdoppeln. „Wir wollen Mieter, die sich nicht wie Eigentümer aufführen, einfach den Hauswart aus dem Bett klingeln und sich ihre Wohnung zeigen lassen wollen“, hieß es von seinem Büro. Ob er damit durchkommt, ist fraglich. Sowohl das Bezirksamt wie auch der Bausenator wollen diesen „Präzedenzfall“, so Senatsmitarbeiter Nitsch, frühzeitig in ihrem Sinne beendet sehen. „Nach den vielen Bauverzögerungen lassen wir jetzt prüfen, ob wir das Geld zurückfordern, aber die Bindungen bestehen lassen können.“

esch