30.000 Berliner ausgebürgert?

■ Der ehemalige Magistrat dehnte gegen den Viermächtestatus das Stadtgebiet von Berlin aus / Teile von Marzahn, Hellersdorf und Alt-Glienicke liegen im Bezirk Frankfurt/Oder / Im zweiten Staatsvertrag müssen die Grenzen neu festgelegt werden

Ost-Berlin. Nicht jeder Bewohner von Ost-Berlin lebt tatsächlich auf dem Gebiet von Berlin, wie es im Viermächtestatus festgelegt wurde: Die etwa 11.000 Glücklichen, die Anfang der 80er Jahre in eine Neubauwohnung im Marzahner Ortsteil Ahrensfelde-Süd, am Stadtrand von Berlin, einziehen konnten, wohnen - streng juristisch betrachtet - im Bezirk Frankfurt/Oder. Mit dem 2.Staatsvertrag könnte es ihnen passieren, plötzlich in der Mark Brandenburg, mitten in der Provinz des Bezirks Frankfurt zu leben - ohne umgezogen zu sein. Die Kinder gingen dann nicht im Land Berlin zur Schule, sondern im Bundesland Brandenburg, sämtliche kommunalen Einrichtungen lägen nicht mehr in Berlin, sondern im 80 Kilometer entfernten Frankfurt beziehungsweise in der Landeshauptstadt Potsdam. Und, nicht zuletzt, ihr Kreuzchen bei Landtagswahlen würden die Ahrensfelder nicht auf Berliner Stimmzetteln abgeben, sondern für den brandenburgischen Landtag in Potsdam.

In einem der taz vorliegenden Vertrag zwischen dem ehemaligen Oberbürgermeister von Berlin, Erhard Krack, und dem Rat des Bezirks Frankfurt vom 30. März 1983 wurde festgelegt, daß „im Interesse der Berliner Bürger, die in Ahrensfelde-Süd wohnen“, die „Hauptstadt der DDR“ fast sämtliche kommunalen Funktionen übernimmt. Für die Bereiche Schule, Wohnen, Arbeitsplatzvermittlung etc. wurde damit gegen die Bestimmungen des Viermächtestatus der Geltungsbereich der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone ausgedehnt, ohne dies mit den Westalliierten abgestimmt zu haben. Lediglich die Liegenschaftsverwaltung, das heißt die Aufsicht über die Grundbücher, blieb in Frankfurt. Damit sollte pro forma der Status unberührt bleiben, auf westliche Proteste wurde nicht reagiert. Der Grund für dieses Konstrukt lag schlicht am Platzbedarf für Neubausiedlungen, die über die eigentlichen Stadtgrenzen hinaus geplant wurden.

Ein ähnliches Abkommen wurde zwischen Berlin und Frankfurt über einen Grenzzipfel zwischen Hellersdorf und Hönow geschlossen, in dem nochmals über 11.000 Menschen wohnen. In dem dort projektierten riesigen Neubaugebiet sollen 17.000 Wohnungen errichtet werden. Zwei weitere Fälle liegen im Süden von Berlin: Im Stadtteil Alt-Glienicke wurde über die Stadtgrenzen hinweg mit dem Neubau eines riesigen Heizkraftwerkes begonnen, und in der Nähe des Flughafens Schönefeld einigten sich die Interflug und der alte Magistrat von Berlin, ein Wohn- und Arbeitsgebiet für Interflug-Mitarbeiter hinzustellen. Insgesamt sind etwa 30.000 Menschen von der Neugliederung unmittelbar betroffen.

War es in der zentralistischen DDR eher zweitrangig, in welchem Regierungsbezirk man wohnte, erhält dies mit der föderalistischen Neugliederung mehr Gewicht. Im zweiten Staatsvertrag sollen die Stadt- beziehungsweise Landesgrenzen von Berlin neu festgeschrieben werden. Der Westberliner Senat stellte in den Vorgesprächen - mit Ausnahme von West-Staaken und Gatow, die nach dem Krieg über Gebietsaustausch zu West-Berlin kamen - bisher keine neuen Gebietsansprüche. Mit Bekanntwerden der illegal erworbenen Gebiete ändert sich diese Haltung. In den morgen beginnenden Verhandlungen will sich der Senat darum bemühen, daß die betroffenen Gebiete bei Berlin bleiben. Geht es nach dem bisher vorliegenden Vorschlag aus Bonn, soll Berlin in 23 Bezirke in den bisherigen Grenzen aufgeteilt werden - die betroffenen Ortsteile fielen damit an die Provinz.

kd