Perestroika in roten Zahlen

■ Die Regierung der UdSSR hat in Washington um einen Kredit für umfangreiche Getreideaufkäufe nachgesucht. Die Zahlen der sowjetischen Statistikbehörde zeigen, daß sich die sowjetische Landwirtschaft trotz guter Ernteaussichten nicht erholt.

Sowjetische Landwirtschaft setzt verstärkt auf Kredite

Die kontinentalen Schwankungen der Großwetterlagen haben den Ernteverantwortlichen diesmal keine Ausrede parat gelegt. Das Wetter war optimal. Ginge alles mit rechten Dingen zu, könnte dieses Jahr ein Ernterekord werden. Doch im Kornkammerkeil, der sich im Westen von Estland bis nach Bessarabien erstreckt und im Osten bis zum Oberlauf des Jennessej reicht, fehlt es zur Zeit an fast allem, was die sichere Einfuhr der Ernte gewährleistet: Maschinen, Benzin, Eisenbahnwaggons, Ersatzteile und vor allem zusätzliche saisonale Arbeitskräfte. So sah sich denn ausgerechnet Boris Jelzin, Ministerpräsident der Russischen Föderation, vergangene Woche dazu gezwungen, einen Aufruf an seine Landsleute zu richten mit der Bitte, die angeschlagene Landwirtschaft tatkräftig zu unterstützen: „Um eine Katastrophe abzuwenden, müssen wir schnell etwas unternehmen. Die Natur hat uns in diesem Jahr gesegnet. Fast in ganz Rußland gab es eine gute Ernte. Man muß sie einbringen und sachgerecht lagern, damit deren Produkte auch auf den Tisch der Russen gelangen.“ Jelzin war sich seines prikären Vorstoßes bewußt. Denn schließlich hat er den Kampf gegen die Methoden der administrativen Kommandowirtschaft als einer der ersten eröffnet. Wie viele seinem Aufruf gefolgt sind, läßt sich noch nicht feststellen. Den Arbeitswilligen versprach Jelzin aber besondere Schecks „Ernte 90“, mit denen sie auf legale Weise an defizitäre und hochbegehrte Ware herankommen können.

Unterdessen häufen sich in der Redaktion der Parteizeitung 'Prawda‘ besorgte Anfragen, ob die Drohungen einiger Landwirtschaftskollektive, in den Ausstand zu treten, tatsächlich ernstgemeint seien. Nordöstlich Moskaus drohen Kolchosen ihre Produkte zurückzuhalten, bis sie aus der Stadt die nötigen Ersatzteile, Maschinen und Treibstoff erhalten. Benzin ist aber selbst in Moskau knapp. Um den schwer gebeutelten und mit Investitionen nicht gerade überschütteten Agrarsektor nicht noch weiter zu verärgern, wurden in den zurückliegenden Wochen schon die Benzinlieferungen in die ehemaligen Bruderländer drastisch beschnitten. Und an den Tankstellen Moskaus erhalten Privatleute meist auch nur rationierte Mengen.

Noch haben die Farmer ihre Drohungen nicht wahrgemacht. Aber wie Leonid Schamkow, Vorsitzender einer Kolchose in Kostroma im Norden Moskaus, gegenüber der 'Prawda‘ deutlich machte, sind sie nicht mehr weit davon entfernt: „Wie lange sollen wir das noch so mitmachen. Wir haben die Schnauze gestrichen voll. Wir werden wohl nicht streiken, aber wir sind Herren unserer eigenen Produkte, und das ist ein kraftvoller Hebel, den wir in extremen Situationen auch gebrauchen werden.“ In Mischurin, südöstlich Moskaus, sprach sogar der lokale Sowjet die Drohung aus: „Wenn die Leute nicht bei der Gemüseernte helfen, erhalten sie auch kein einziges Gramm Lebensmittel.“ Hauptproblem sind die fehlenden Arbeitskräfte. Früher schickten Fabriken und andere Institutionen Arbeitskräfte brigadenweise als Erntehelfer aufs Land. Ihr Salär war nicht mehr als ein kleiner Obulus der Anerkennung. Das hat sich in diesem Jahr völlig gewandelt. Zum einen hat die Partei nicht mehr den direkten Zugriff. Nimmt jemand nicht am freiwilligen „Erntesubotnik“ teil, kann er nicht mehr ohne weiteres gemaßregelt werden. Zum anderen arbeiten die Betriebe heute großteils auf Basis der Selbstkostenrechnung. Fehlen Arbeitskräfte, spüren sie es anschließend in den eigenen Büchern. Verärgert äußerte sich ein Kolchusnik über die Forderungen der Arbeiter eines Eisenbahndepots: „Sie verlangen 75 Prozent mehr als den Standardlohn. Das Ergebnis so einer Hilfe kann nur die Pleite sein.“ Allgemein halten die Farmer den Städtern vor, sie wüßten einfach nicht, wie es um die Landwirtschaft wirklich bestellt sei.

So ganz schuldlos an der Entwicklung sind die Farmer aber nicht. Viele Betriebe ernten weniger als zehn Zentner Weizen pro Hektar, der zumeist dreckig und naß ist. Ein Volksdeputierter machte kürzlich folgende Rechnung auf: „Nehmen wir die Tonne Benzin, die 200 Kilogramm Saatgut, Pestizide und Düngemittel, dazu noch Eisen und Stahl der Maschinen. Berechnen wir mal für die Rohstoffe die Weltmarktpreise, dann müßten wir zu einer unortodoxen Lösung des Lebensmitteldefizits gelangen - nämlich solchen Leuten Geld zu bezahlen, die bisher die Ernte vermurksen, damit sie zu Hause bleiben.“ Als Gegenbeweis führt er die privaten Versorger an, die mittlerweile ein Viertel der Gesamtproduktion bestreiten. Sein endgültiger Vorschlag: „Laßt uns um jedes Dorf und jede Stadt eine Berliner Mauer ziehen und auf beiden Seiten in Frieden arbeiten ohne Streitereien, bis die Mauer von selbst fällt - wegen des höheren Lebensstandards auf der einen Seite.“ Ein Beispiel aus der eigenen Historie hat er auch sogleich parat: das Nebeneinander der feudalen zentralrussischen und der freien Ökonomie der Kosaken am Don.

Klaus-Helge Donath, Moskau