„Is‘ mir doch egal, wozu wir gehören!“

■ In Ahrensfelde-Süd plagt die wenigsten die Sorge, daß sie vielleicht bald zum Land Brandenburg gehören könnten / Vorherrschend sind Zukunftsangst und Resignation / Die Stadtgrenze verläuft mitten durch die Neubausiedlung

Marzahn/Ahrensfelde. „Wir solln nicht zu Berlin jehören?! Det is ja wat janz Neues.“ Der blonden älteren Berlinerin schnappt die Stimme über. Seit vier Jahren wohne sie jetzt schon hier, aber davon habe sie noch nie etwas gehört, und die Zeitungen habe sie heute auch noch nicht gelesen. „Nun erklärn Se mal: Ahrensfelde liegt hinter Berlin, aber wir doch nich! Det wär ja 'n Ding aus'm Dorf.“ Aufgeregt eilt die Frau von dannen, um ihrem Mann die Nachricht zu über bringen.

Mittags gegen zwei Uhr, bei sengender Hitze im Endlosneubaugebiet von Marzahn, an dessen nördlichem Ende: Hier liegt der Ortsteil Ahrensfelde-Süd, von dem jetzt offiziell bekannt geworden ist, daß er gar nicht zu Berlin gehört, sondern zum Bezirk Frankfurt/Oder. Das märkische Dorf Ahrensfelde ist hinter den letzten Hochhäusern zu sehen, und es liegt tatsächlich im Kreis Bernau, Bezirk Frankfurt. Die Neubausiedlung, die sich an den südlichen Dorfrand anschließt, zählt im Bewußtsein ihrer Bewohner zu Berlin - aus gutem Grund.

Im Jahr 1983 schloß der ehemalige Oberbürgermeister von Ost -Berlin, Erhard Krack, mit dem Rat des Bezirks Frankfurt einen Vertrag, in dem alle kommunalen Einrichtungen von Ahrensfelde-Süd an Berlin übertragen wurden - mit Ausnahme der Liegenschaftsverwaltung. Die expandierende Hauptstadt der DDR brauchte Platz, um zu bauen, und nahm es mit den durch die vier Siegermächte festgelegten Stadtgrenzen nicht immer so genau. In Ahrensfelde wurden 4.000 Wohneinheiten für 11.256 Menschen errichtet, in der unvermeidlichen sozialistischen Plattenbauweise, hier vorzugsweise in Braun -Rot-Tönen gehalten. Vielen Bewohnern war bekannt, daß sie eigentlich nicht auf dem Territorium von Berlin leben, Konsequenzen waren daraus aber nicht zu befürchten. Mit den Verhandlungen zum zweiten Staatsvertrag wurde der Vorgang, der nicht einmalig ist, in West-Berlin offiziell bekannt. Auch am Rand von Hellersdorf, in Altglienicke und in Schönefeld wurden Fälle bekannt, in denen Neubaugebiete ins Umland wucherten - eine Mauer gab es dort schließlich nicht. Rund 30.000 Ostberliner leben danach nicht in Berlin, sondern im künftigen Land Brandenburg - es sei denn, im sogenannten Einigungsvertrag werden die Grenzen für den künftigen Stadtstaat Groß-Berlin neu festgeschrieben. Der Westberliner Senat will sich darum bemühen; die Regierung der DDR verspürt wenig Neigung, etwas für die Ahrensfelder zu tun, damit sie bei Berlin bleiben dürfen.

In der Siedlung mit ihren 30 bis 40 Wohnblocks, in deren Mitte die Stadtgrenze verläuft, hält sich die Aufregung darüber, daß man möglicherweise bald im Bundesland Brandenburg wohnt, in Grenzen. Niemand hat eine genauere Vorstellung davon, was es heißt, von einem zentralistischen Staat in einen föderalen umgewandelt zu werden. Die wenigen Menschen, die in der Mittagshitze auf der Straße anzutreffen sind, plagen andere Sorgen. Selbst an diesem strahlenden Sommertag verliert die Neubausiedlung nichts von ihrer Tristesse. Vier Jahre sind die Häuser jetzt alt, und für die meisten ihrer Bewohner bedeuteten sie den Sprung von heruntergekommenen Altbauwohnungen ohne Bad in eine moderne Neubauwohnung mit Bad und Küche. 126 DM bezahlt man hier im Moment für eine Dreiraumwohnung mit 62 Quadratmetern.

„Wir haben viel mehr Angst vor Preiserhöhungen als davor, vielleicht nicht mehr zu Berlin zu gehören“, beschreibt ein „Parkpfleger“, der mit zwei Kollegen in einem vertrockneten Beet mit ein paar kümmerlichen Zierpflanzen Unkraut jätet, die Gemütslage in Ahrensfelde. „Schöner wär det ja schon, zu Berlin zu jehören, aber es gibt wichtigere Dinge, Frollein. Vielleicht können Sie uns erklären, was det bedeuten würde?“ Das Unwissen ist groß, noch größer die Angst vor der Zukunft und möglichem Sozialabbau, vor Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen. Was der zweite Staatsvertrag bedeutet, weiß niemand so genau, es sind wieder „die da oben“, die alles regeln. „Unsere Leute sind genauso unfähig wie bisher“, erregt sich eine 52jährige Buchhalterin, die, wie viele andere Befragte, gleich ihre ganze Lebensgeschichte heraussprudelt. Nach wenigen Sätzen ist sie den Tränen nahe. Die Misere von 40 Jahren Sozialismus und die nicht verarbeitete Wende haben sie - im wahrsten Sinne des Wortes

-entnervt. Seit Wochen ist sie bei einem Neurologen in Behandlung. „Der Kohl hat uns was vorgelogen, wir leben jetzt schlechter als vorher. Wir haben unser Leben hinter uns, wir haben doch nirgends mehr eine Chance.“ Ihr Mann sei gekündigt worden, erzählt sie, weil er nach dreißig Jahren Mitgliedschaft in der SED einmal den Mund aufgemacht habe, und jetzt liege er im „Griesinger“ (große psychiatrische Klinik in Biesdorf; d.Red.). „Ich habe ihm immer gesagt, er soll den Mund halten“, aber er habe ja nicht auf sie hören wollen.

Auch im einzigen Supermarkt in Ahrensfelde, einem großen Konsum, herrschen Resignation und Angst vor. „Is‘ mir doch egal, wozu wir gehören, Hauptsache, es geht uns endlich besser“, schnaubt ein Vater vor drei Kindern, die sich um Gummibärchen balgen. „Gucken Sie sich doch die Preise hier an, wir werden doch gezwungen, nach West-Berlin zu fahren und dort einzukaufen!“ Ansonsten ist die Infrastruktur spärlich in Ahrensfelde-Süd. Es gibt eine Oberschule, einen Kindergarten, die „Gaststätte am Kornfeld“ im Betonflair der siebziger Jahre und zwei Klubs, geöffnet von 18 bis 23 Uhr.

Am Straßenrand der Erich-Glückauf-Straße fallen große Holzkisten ins Auge. Bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich als Überseekisten, adressiert von Berlin 1043 nach Hanoi und anderen Orten in Vietnam. In den Blocks der Erich-Glückauf -Straße leben mehrere hundert Vietnamesen, fein säuberlich abgetrennt von den deutschen Bewohnern. Der Magistrat von Berlin betreibt für sie ein Arbeiterwohnheim: „Betreten nur mit sauberer Arbeitskleidung“. In den Überseekisten schicken die ausländischen Arbeitnehmer die in Berlin erstandenen Güter nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen. „Die leben hier wie im Hotel“, glaubt eine Mitarbeiterin der Heimleitung, „die bleiben unter sich.“ Nein, Ausländerfeindlichkeit gebe es hier nicht. Beim Versuch, einen jungen Vietnamesen anzusprechen, springt dieser sofort ängstlich hinter die Haustür und fragt, ob er seinen Paß vorzeigen muß. Es sei gut, hier zu leben, alles sauber und ordentlich, aber es sei nicht die Heimat, läßt er sich schließlich entlocken. Die Heimat sei in Hanoi, und deswegen möchte er bald zurückgehen, und man wisse ja gar nicht, wie hier alles weitergehen wird ...

Kordula Doerfler