Avignon. Wasser und Werke

■ Notizen einer trockenen Woche am Ufer von Rhone, Durance und Sorgue

Von Fritz von Klinggräff und Alexander Smoltczyk

Nichts in der steinernen Stadt Avignon ist einfacher und bedeutungsloser als seine Wasserversorgung. „Das hat keinen Geschmack, keinen Geruch, keine Farbe, fast keine Form“, schrieb Francis Ponge, der vor Jahren hier geehrt wurde, in Ein Glas Wasser. Die Präambel aus dem Grundgesetz des Wasserbauamtes von Avignon sagt es nicht minder lakonisch: „Das Wasser der Gemeinde Avignon hat seinen Ursprung im Grundwasser von - La Saignonne“, das im Wesentlichen gespeist wird von der Durance und dem Sickerwasser der umliegenden Bewässerungen.

In den frühen Morgenstunden, während das Nachtvolk der Theaterstadt sich in seine dumpfen Träume und stickigen Schlafsäcke an die Ufer der Rhone geflüchtet hat, wird für ein paar Minuten das Wasser der 23 Stadtbrunnen in die Höhe geschraubt, Trinkwasser rauscht in dickem Schwall durch die Rinnsteine der Gassen und reinigt die Stadt gelangweilt von ihren nächtlichen Versprechungen: „Das Ereignis des OFF...“ - „Ein Stück am Rande des kosmischen Universums der Clownerei“, etc pp. Eine Stadt, beklebt, behängt, gepflastert mit Waschzetteln der gut dreihundert Gruppen, die sich in Kellern, Kirchen, Jugendhäusern produzieren, wie jedes Jahr seit 1947, wenn Theater-Festival ist in Avignon. Doch wenn sich dann im Rhone-Delta die ersten Gestalten aus ihren Schlafsäcken winden, wird in der „Stadt des Flusses“ so übersetzt die Stadthistorik den römischen Namen „Avenio“

-der Druck der Fontänen gemildert, schamhaft versteckt sich das Wasser hinter Blumenfassaden, unsichtbar steigt es durch die Leitungen der Häuserwände, 33.288 Kubikmeter täglich, dank des Prinzips der korrespondierenden Röhren hinaufgedrückt vom neuen Reservoir im Inneren des Papstfelsens. Beeindruckend.

Mit den „choses simples“, den einfachen Dingen des Überlebens mag man sich in dieser Stadt der Phantasmen und Szenarios nicht abgeben, einer Stadt, die seit jeher von der Furcht vor Hochwasser besessen ist und den drohenden Fluß Rhone mit ihren hohen Mauern verdeckte und verdrängte. Lieber übt man sich morgens um elf zur Frühgymnastik in den leichten rhetorischen Drehungen und Wendungen des berühmtesten französischen Stadtbusses: „In der Linie S, zur Stoßzeit. Ein Typ von 26 Jahren (...) tritt seinem Nachbarn auf die Füße...“ Die 99 fingerfertigen Stilübungen Raymond Queneaus, 99 mal die gleiche Geschichte als Ode und Komödie, als Lipogramm und als Notat jenes unsäglichen Ereignisses auf der Pariser Linie „S“, versandet in der Ein -Mann-Show der „Gradins Dauphinois“ in besserwisserischen Clownereien. Uns tritt keiner auf die Füße; wir verlassen vorzeitig den Saal.

„Wenn die Hundstage noch zwei Wochen dauern“, hatte der Kabinettschef im Landwirtschaftsministerium gesagt, „dann wird die Lage beunruhigend, sehr beunruhigend.“ Es sei zu heiß, und in vielen Regionen stünden die Pegel auf Rekordtief. Das war vor vier Tagen. Am 8.August ist Stichtag. Noch zehn Tage also; und der Antizyklon, unter dem Frankreich seit Mitte Juli ächzt, macht noch keine Anstalten, sich zu verflüchtigen. Die munteren Geister auf der Bühne Avignons aber bekümmert das apokalyptische Gerede der Journalisten und Politiker um den Wassernotstand im Lande ebensowenig wie die elementaren Gesänge ihrer Dorfpoeten jenseits der Stadtmauern in Fontaine-de-Vaucluse und Isle-sur-la-Sorgue. In den Cafes ist der „Perroquet“ in Mode gekommen, ein mit Minzsirup gegrünter Anisschnaps; Wasser ist zum Trinken da. Gestern waren 34 Grad Celsius, heute, am Donnerstag sind es zwei Grad weniger. Man lebt zwischen Menthe l'eau, Grenadine l'eau, Pastis, Orangina, Demi, Coca, Perrier (kalt); Espresso, Cafe creme (warm); Suze, Kir, Martini, Banyuls, Muscat (süß). Die Klassifikation des flüssigen Nahrungsmittels auf den Speisekarten der Cafes hätte den Spott und die Faszination George Perecs, dem vor zwei Jahren das Festival gewidmet war, hervorgerufen. Les Choses communes, das Stück der kleinen Beobachtungen über die Alltagswelt des Stadtmenschen, ist leicht zu goutieren: Nachtgedanken zweier junger Soziologen im Schlafsack über die Ordnung des Brillengestells und den Nicht-Raum der Psychoanalyse, ein kleines enzyklopädisches Ringelreihen um Logos und Chaos.

Die Stadt mit ihren Kalksteinbauten ist im späten Julilicht scharf in hell und dunkel geteilt, wie auf dem George de la Tour im Papstpalast. „In den Kreis der Kerze treten, dort verweilen, ohne der Versuchung nachzugeben, das Zwielicht durch den Tag zu ersetzen“, schrieb der Mann aus Isle-sur-la -Sorgue. Am Freitag soll es gewittern, heißt es. Doch dann bläst der Mistral alle potentielle Feuchte weg, und es bleibt trocken in Avignon. Im Zikadengarten eines Hinterhofs sitzt Alain Jouffroy im Schatten einer Platane und läßt einen de Sade rezitieren, für den Tag und Nacht keinen Unterschied machen, der zugleich Visionär des Dunklen und Revolutionär der lichten Freiheit ist. Nach fünfzehn Minuten Juliette ist die Hälfte des Publikums erbost entschwunden, strömt weiter schwitzend durch die Gassen, den Schatten suchend. An den Ecken hüpft, geigt und mimt es, es gestikuliert, paukt und puppenspielt, grölt, jodelt und steppt - kurz: man drückt sich aus und ist so frei.

Und dann ins „Off“, in die schattigen Keller, Kartausen, Katakomben der Stadt, wo sich in Szene setzt, was erst noch „in“ sein möchte. Nie zuvor gab es soviel Offs, und nie zuvor auch so viel prätenziöse Langeweile, soviel nichtige Selbstentfaltung auf Bühnenbrettern, zum Leiden von Autor und Publikum. Rar sind die Gruppen geworden, die auf der Bühne mehr zu suchen haben als eine Freikarte für Bauchnabelschau coram publico, die nach Ausdruck suchen, ohne die Zeitgenossen mit den eigenen Bauchschmerzen zu inkommodieren. Da wird zum 500sten Mal Kafka als großes Weltschmerztheater mißverstanden (manches „in“ machte es vor, wie Das Zusammentreffen des Ungarn Peter Nadas) und sorgfältig der Dualismus von Bühne und Publikumsgehege gepflegt: ein Zwei-Welten-Mythos mit der Einsamkeit künstlicher Autismen auf der einen, Fernsehschlaf auf der anderen Seite. Das Publikum bleibt höflich bis zuletzt.

Gewiß - unter den paar hundert Off-Stücken war auch manch Gutes. Heiner Müllers Brecht-Fortführung Le Dieu Bonheur soll sehenswert gewesen sein, es gab einen sehr schönen Rameaus Neffe vom Pariser „Theatre du Juillet“, einen Koltes, einige Klassiker-Remakes. Aber dennoch: kein Ereignis. Viel Schweiß, wenig Tränen. Politik beschränkte sich auf das Nachspielen von Havel-Stücken (der Mann ist ja jetzt Präsident) oder auf wohlfeile Melancholie a la „Alles -so-furchtbar-Ach!-Nur-Clowns-Poeten-Träumer-haben-Recht“ verpaßten „Polska“ und manch anderes. Was wir sahen, war zu viel.

Vom päpstlichen Garten über der Stadt ist zu sehen, wie sich vor den Toren die beiden Arme der Rhone wiedervereinigen. „Bereit, sich zu treffen, zu versöhnen in der Zerstörung des Körpers unseres Hauses“, meinte der Mann aus Isle-sur-la-Sorgue. In diesem Jahr wurde die Abschottung gegen die unberechenbaren Flüsse der Vaucluse etwas gelockert, ja man ließ die Sorgue sogar ein in die päpstlichen Gemächer. Dem Dichter Rene Char, der bis zu seinem Tod 1988 am Ufer dieses Flusses, etwas unterhalb von Saumane, dem Stammschloß der de Sades, wohnte, ist das Festival gewidmet. Und die Sorgue, die selbst in diesem Sommer merkwürdig unberührt ist von all der Dürre um sie her, war für ihn das, was der Berg Sainte Victoire für Cezanne war - lebenslang ein Gegenstand der Reflexion: „Fluß, wo der Blitzschlag endet und mein Haus beginnt /Der im Gang des Vergessens die Kiesel meiner Vernunft vor sich herrollt.“ In der großen Kapelle des Papstpalastes hat er seine Ausstellung „Rene Char - Ein Stück des Weges gehen...“. Hier über dem theatralischen Gewimmel der Stadt bekommt damit einer seine Hommage, der sich mit großstädtischer Scharfzüngigkeit und den „Choses communes“, den gemeinen Dingen des Alltags, nicht abgibt, dabei mit seinem Lob der elementaren Dinge bisweilen in Gefahr begibt, sich nach Todtnauberg zu verlaufen. Die sehr gut ausgestattete, klassische Ausstellung zeigt Spuren des Pleiade-Dichters. Bemalte Kiesel, Manuskripte, ein Giacometti, einige Braques - doch die heikle Poesie Chars ist von den Ausstellungsmachern auf Sprüche eines Poesiealbums reduziert: „Das Gedicht ist die realisierte Liebe.“ Spotbeleuchtet auf grauem Grund sollen sie uns etwas sagen wollen, ehrfürchtig erwirbt man den Katalog - für später, für bedächtige Stunden im Kerzenlicht. Am Abend dirigiert Pierre Boulez im Ehrenhof des Palastes seine symphonische Ellipse zu Chars Die Sonne der Wasser und Le Visage nuptial, den wolkenlosen Himmel über sich und die kompositorischen Gesetze der Wiener Moderne in sich. „Schwer ist das Wasser, einen Tag vor der Quelle“, singt die Sopranistin. Die mächtigen Mauern des Papstpalastes sind nicht für Konzertantes gebaut worden, dennoch ziehen sich die Pianissimi der Geigen bis in die obersten Ränge hinauf. Es windet leicht.

Hochwasser, Mücken, Sumpffieber. Immer hatte Avignon Ärger mit dem Wasser, mit zu viel Wasser. Das Grundwasser der Stadt schwappt auf drei Meter Tiefe gegen die Kellerwände der Bürger, und manch einer von ihnen erinnert sich noch an das Jahr 1935, als die Rhone zum - bislang - letzten Mal die engen Gassen der Unterstadt in ein venezianisches Kanalsystem verwandelte. 1860 ließ die Stadt ein immenses Wasserreservoir in den Dom-Felsen hineinschlagen, das mittels eines komplizierten Ziegelrohrsystems die Bürger mit Trinkwasser versorgte. Heute ist es leer, ein Kulturzentrum entsteht an seiner Stelle. Zerbrochene Ziegel liegen auf dem Boden, drum herum ein Rahmen aus Fliesen, dürres Holz hängt im fensterlosen Raum. Ajax hat nach dem Versuch, Odysseus umzubringen, Selbstmord begangen. Sein Kadaver liegt vor Trojas Mauern, staubiger Mittelpunkt eines kargen Tableaus, in dem sich vier Schauspieler großenteils schweigend, wenn auch nicht stumm bewegen. Theater ohne Worte, mit zeitlupenhaften Gesten, zu denen sich das Publikum als Beobachter verhalten muß - nur Zuschauen reicht nicht aus. Leichte Lichtvariationen, elektronisch verdichtete Geräusche, Babygreinen, Blöken, Knarren und - das Knirschen der Schritte auf dem Ziegelfeld strukturieren die Geschichte eines Todes, der kein Abschluß ist. Erst am Ende, nachdem Ajax gespenstergleich siebzig Minuten lang durch Reservoir und Angedenken der Hinterbliebenen geirrt ist, ertönt von oben ein Rauschen, als würde nun - endlich - geflutet. Ajax, Sohn des Telamon, von Bruno Meyssat nach der Tragödie des Sophokles inszeniert, war einer der wenigen großen Theatermomente des Festivals und in seiner Strenge noch beeindruckender als das in Altgriechisch rezitierte „Io„-Fragment aus dem Gefesselten Prometheus von Äschylos, das von Nico Papatakis in der Cordelier-Kapelle gegeben wurde.

Am Samstag meldet der 'Proven?al‘, daß im Departement Vaucluse in vier Gemeinden das Wasser rationiert worden ist. Seit zwei Sommern und zwei schneefreien Wintern kühlen die Flüsse in Frankreich nicht mehr ab, Atom- und Stromzentralen müssen geschlossen werden, ebenso der „Canal du Midi“. In den meisten Regionen des Südwestens und in der Bretagne fordern die Bauern vom Staat, daß er den Katastrophenzustand ausruft, damit ihnen die verdorrte Ernte ersetzt wird. Aber Avignon sei gut gerüstet, erklärt uns Monsieur Vezinhet, Cheftechniker der Wasserwerke. Die 1.054 Hydranten und 575 Wassersprenganlagen werden vom Trinkwassersystem versorgt; ein paralleles Brauchwassersystem zum Sprengen und Säubern, wie es Paris und Marseille besitzen, braucht Avignon nicht. Und Pissoirs (13) gibt es zweifellos bald soviel wie Brunnen und Fontänen, denn vom gutfunktionierenden Stoffwechsel erzählt in der Stadt jede Hausecke. Je größer die Katastrophe in der Provinz, so bringt Monsieur Vezinhet das Wunder der Zivilisation auf den Punkt, desto besser sei die Haupstadt der Vaucluse mit Wasser versorgt: denn die Dürre zwinge die Bauern des Departements, ihre Felder mit dem Wasser der Durance zu besprengen, wodurch sich die Grundwasservorräte der Stadt in „La Saignonne“ erhöhten. Auch wenn die Provinz ausgedörrt sei, herrsche in Avignon an Wasser folglich kein Mangel, das neugebaute Reservoir im Inneren der Papstfelsens (8.000 Kubikmeter) sei gut gefüllt. Bernard Faivre d'Acier ist der Generaldirektor aller französischen Theater und Spektakel. Er hat neunzehn Regionen der Provinz bereist und legt in Avignon einen Plan eines Netzwerks vor, um die vorhandenen Ressourcen besser zu verteilen. Das Theater, sagt er, müsse seine Umlaufgeschwindigkeit erhöhen, die Produktionen müßten besser zirkulieren, was nur möglich sei, wenn die bestehenden Hierarchien zwischen Staatstheater, Pariser Prestige-Spektakeln und freien Gruppen zerbrochen würden.

Die Dezentralisierung der französischen Kulturpolitik hat zwar ein, zwei, drei neue Paris geschaffen - doch an der finanziellen Situation vieler Off-Gruppen nichts geändert. Jerome Savarys Wirken in Montpellier etwa führte dazu, daß die gesamte freie Theaterszene der Region trockengelegt wurde, weil der Meister die Pariser Gelder für seine Spektakel verbrauchte, mit denen er sich dann in Europas Kapitalen präsentieren konnte. Zum Dank ernannte Jack Lang ebendiesen Savary zum Nachfolger des großen Antoine Vitez im Nationaltheater Chaillot (wenn jemand beim diesjährigen Festival fehlte, dann Vitez, der im April verstorbene Chef der „Comedie Fran?aise“, ohne den das französische Theater zu verwaisen droht), zum Dank ließ die Festivalleitung Savary den Steinbruch in Boulbon mit seiner Disney-Version des Sommernachtstraums entweihen - den Ort, wo Peter Brooks Mahabharata 1985 Theatergeschichte gemacht hatte. Eine Blasphemie, die nur durch eines wiedergutzumachen war: die Darbietung des anderen großen Mythos Indiens, des Ramayana-Epos, im Ehrenhof des Papstpalastes. Was dann am Sonntag abend auch geschieht, dem vorletzten Tag des Festivals. Das javanesische „Wayang Orang“ tanzt, trommelt, zimbelt die alte Geschichte vom Kampf des guten Rama mit dem Bösen, ein Theater als Zeremonie, weit entfernt von Narzismus und moralischen Anstalten, erzählend vom Einfachen - der Traum des Antonin Artaud, und für ihn Quelle eines neuen Theaters. Es ist kühler geworden. Irgendwo im Inneren des Papstfelsens warten 8.000 Kubikmeter Wasser, irgendwo wandern die letzten der 33.288 Kubikmeter des Tages in die Gullis, farb-, geschmacklos und fast ohne Form.

Katalog: Rene Char. Faire du chemin avec... 326 Seiten, 200 Francs.