Bombe ohne Sühne

■ Vor zehn Jahren kamen beim Attentat von Bologna 85 Menschen ums Leben / Wie bei allen rechtsterroristischen Attentaten gibt es keine Sühne / Italien, das Mutterland der „Justitia“, ist heute ein Land der Rechtsunsicherheit

Aus Rom Werner Raith

Kein Zweifel: Das Alibi war wasserdicht. Beim Anschlag von Bologna, so belegte der deutsche Söldner Joachim Fiebelkorn dem Gericht 1984 in Frankfurt, könne er gar nicht dabeigewesen sein - da habe er woanders mitgemischt: In Bolivien war just an diesem Tag der Putsch gegen die demokratische Präsidentin Lydia im Gange, und er habe, gedeckt und protegiert vom damals im Lande tätigen SS-Mann Klaus Barbie, die Revolte in Santa Cruz geleitet.

Daß Fiebelkorn überhaupt vor Gericht landete, verdankte er einem Informanten aus dem Umfeld des griechischen Neofaschismus: Der hatte in einem Schweizer Gefängnis einem römischen Ermittlungsrichter gestanden, mit Fiebelkorn und dem Terroristen Stefano delle Chiaie das Attentat auf den Bahnhof von Bologna - 85 Tote, an die 300 Verletzte durchgeführt zu haben.

Mehrere hundert Fahnder arbeiteten rund um die Uhr an der „heißen Sache“ - bis sich herausstellte, daß der „Kronzeuge“ vom italienischen Geheimdienst präpariert und der Ermittlungsrichter nur allzu willig darauf eingegangen war. Gleichwohl blockierte die „pista Fiebelkorn“ monatelang die Suche nach den wirklich Schuldigen.

Die hat man, jedenfalls nach Ansicht des Revisionsgerichts von Bologna, bis heute noch nicht - obwohl schließlich einer der fähigsten Ermittler des Landes, Pierluigi Vigna, den Fall übernahm. Aufgrund von Indizien, aber auch durch Aussagen geständiger Kombattanten ermittelte er Mitglieder der Geheimloge „Propaganda 2“ und Rechtsextremisten als Auftraggeber und als Ausführende.

Verständlich die Empörung, als vor zwei Wochen das Gericht die Urteile - lebenslänglich - der 1. Instanz aufhob. Die Tageszeitung 'l'Unita‘ erschien als Zeichen der Trauer mit einer leeren ersten Seite. Doch dem Gericht mangelnden Aufklärungswillen zu unterstellen, geht wohl an der Sache vorbei: Wie sollen Geschworene - auch wenn die Verhandlung fast ein halbes Jahr lang alle Einzelheiten neu aufbereitet hat - das, was sie in zehn Jahren an diversen „Wahrheiten“ aufgetischt bekommen hatten, noch von dem unterscheiden, was eindeutig feststeht? Kann man es jemandem verdenken, einer noch so stringenten Beweiskette keinen Glauben zu schenken und stattdessen den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ anzuwenden?

Kein Zweifel, daß damit jene gesiegt haben, die immer wieder systematisch Spuren verwischt und neue gelegt haben. Ihre Professionalität steht außer Zweifel: Schon in einem früheren Verfahren wurde eine Seilschaft des Geheimdienstes SISMI deswegen verurteilt.

Der Fall zeigt vor allem das Debakel der italienischen Justiz: Mehrere tausend Linksextremisten und Attentäter sitzen hinter Gittern, doch wurde nicht ein einziges Rechts -Attentat gerichtlich geklärt - obwohl die Zahl der Opfer rechtsextremistischer Attentate (Mailand 1969, Gewerkschaftsversammlung in Brescia und der Italicus -Schnellzug 1974, Bologna 1980, Schnellzug Neapel-Mailand 1984) die des Linksterrorismus um ein Vielfaches übersteigt.

Doch die Schieflage rührt weder daher, daß es gegen rechts weniger entschlossene Ermittler gab als gegen links, noch von angeblich geschlosseneren Gruppen der Rechten. Es liegt vielmehr an den Besonderheiten der italienischen Jurisdiktion, wie der leichthändigen Nutzung des Staatsgeheimnisses. In den letzten Jahren wirkt zusätzlich die weitgehende Eliminierung einer unabhängigen Rechtssprechung.

Bereits in den frühen 70er Jahren hatten zum Beispiel Fahnder wie der Turiner Ermittlungsrichter Luciano Violante enge Verbindungen zwischen mutmaßlichen rechtsextremistischen Tätern, Politikern, hohen Militärs und Geheimdienstleuten (bis hin zu deren Chefs) ausgemacht. Gerichtsverwertbar war davon nichts - immer wenn Violante nahe genug an einen Notabeln herangekommen war, stülpte die jeweilige Regierung das Staatsgeheimnis darüber.

Konsequenz aus der Geheimnistuerei für die Attentats -Prozesse: da die Rechten, außer auf Protektion durch Geheimdienstler, auch nahezu immer mit Hilfen durch das „Staatsgeheimnis“ rechnen konnten, sahen nur wenige von ihnen Grund, sich auf Kronzeugen-Rabatte einzulassen: Am Ende wurden sie ja mangels Beweis freigesprochen, und ohne Genossen belastet zu haben wie die Linken.

Dazu kommt in den letzten Jahren ein geradezu galoppierender Abbau der richterlichen Unabhängigkeit trotz vieler Mängel war sie bis vor wenigen Jahren noch eine der wenigen funktionierenden Stützen der Gesellschaft. Nahezu alle großen Skandale wurden in Italien nicht (wie etwa in den USA und der BRD) durch die Presse, sondern durch mutige Richter aufgedeckt, und oft galten sie geradezu als „Anwalt des kleinen Mannes“ oder als „Rächer des Proletariats“. Zielstrebig hat der „Palazzo“, das Machtkartell, diese Funktion mittlerweile demontiert. So sind Staatsanwälte - ehemals von der Politik unabhängige Organe - seit der Reform von 1989 aus dem Bereich justizieller Autonomie herausgelöst und nun vom Justizministerium abhängig; ein Volksbegehren, das die zivilrechtliche Verantwortlichkeit und den Schadensersatz bei Fehlurteilen regeln wollte, wurde flugs umgemünzt in die Möglichkeit für den Justizminister, mißliebige Richter über den Geldbeutel zu disziplinieren.

Ein solcherart abhängiges Rechtswesen fördert natürlich die Tendenz, Entscheidungen nach opportunistischen Gesichtspunkten auszutarieren; und im Zeichen des derzeitigen Rechtsschwenks in Italien ist Härte gegenüber einschlägigen Tätergruppen nicht angesagt.

Unabhängig von solcher Konditionierung gibt es zudem aber auch eine systematische Politik der Unterbesetzung und mangelnden Ausstattung von Gerichten. Es fehlen mehr als 7.000 Richter und Staatsanwälte und das Zehnfache an Schreib - und Hilfskräften. Nur gut 30 Prozent der benötigten Telefone stehen zur Verfügung. Dokumenten-Transfers dauern oft Monate, Telefax ist nahezu unbekannt. Alleine in Bezirken wie Neapel warten mehrere Millionen Verfahren auf ihre Erledigung; selbst im besser ausgestatteten Mailand hat ein Richter pro Prozeß weniger als eine halbe Stunde zur Verfügung, die Akten zu studieren.

Justizminister Giuliano Vassalli kann Kritik an alledem gar nicht verstehen. „Wenn die Leute was brauchen“, sagt der in Ehren ergraute, mittlerweile aber zur Witzfigur der Justiz werdende Sozialist, „warum melden sie mir das nicht?“ Kunststück: Auch sein eigenes Haus ist personell total unterbesetzt - wenigstens was Fachkräfte angeht. Der Hauptteil der Beamten sitzt auf politischen Posten und widmet sich der Parteiarbeit, nicht dem Recht. Anfragen werden oft jahrelang nicht bearbeitet.

Und den schönsten Streich hat Vassalli selbst sich geleistet: In seine Reform der Strafprozeßordnung, angeblich ein Jahrhundertwerk, hat er die neue Figur des „Präliminaren Richters“, eine Art Voruntersuchungsrichter, eingeführt: als „Pfeiler der Rechtsprechung, um Prozesse zu straffen und das Verfahren transparenter zu machen“. Als es nun, fast ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes, immer lautere Klagen gab, daß man die angeforderten neuen Richter nicht bekommen habe, murrte Vassalli wieder, warum man das denn nicht früher gesagt habe. Erst dann ging ihm auf, daß für die neue Juristenfigur kein entsprechender Studien- oder Fortbildungsgang existiert. Es gibt schlicht keinen einzigen „Präliminaren Richter“ im Lande.

Kein Wunder, daß die Italiener nach einer jüngsten Umfrage des Nachrichtenmagazins 'Panorama‘ jeden Glauben an die Justiz verloren haben: Waren es vor 20 Jahren noch 58 Prozent, die im Juristenstand die honorigste Figur der Gesellschaft sahen, so sind es heute nur noch 28. Und nach den Freisprüchen von Bologna ordneten vier von fünf Italienern der Richterzunft noch genauso viel Glaubwürdigkeit wie den Politikern ein - nämlich gar keine mehr.